Eine Seuche in der Stadt, Ljudmila Ulitzkaja, München 2021
Als Ljudmila Ulitzkaja 1978 diese Szenario, wie sie es nennt, als Bewerbung für einen Drehbuchkurs an den sowjetischen Filmautor Valeri Frid schickte, verwunderte sie die Absage nicht wirklich. So schreibt sie es aus ihren Erinnerungen im Nachwort dieses Buches. Frid war selber in den Fängen des stalinistischen Terrors als junger Mann ver- und gefangen gewesen, er mochte sich nicht vorstellen können, dass der Geheimdienst überhaupt zu irgendetwas Gutem fähig gewesen sei. Doch darum geht es in diesem Szenario, denn 1939 ist man in Moskau nur knapp einer Pestepidemie entgangen, und dies nur kraft des beherzten Durchgreifens des Geheimdienstes und der konsequenten Arbeit eingeweihter Ärzte und Funktionäre. So legt sich ein Unbehagen offen, dass das „Böse“ etwas „Gutes“ zustande kriegt, und man wird im Buch unausgesprochen – immerhin lag es als Text 1978 zur Zeit Breschnews vor – stets der Angst der Bevölkerung vor den stalinistischen Säuberungsaktionen gewahr. Denn aufgrund der Geheimhaltung wird nicht ersichtlich, ob es um Quarantäne oder um Verhaftung geht.
Ljudmila Ulitzkaja hat diesen Text lange in der Schublade vergessen gehabt. Erst aufgrund der Pandemie Covid 19 ist er ihr wieder ins Gedächtnis zurückgekehrt. Die Fragen der ethischen Verantwortung und politischen Ehrlichkeit, aber auch der Ängste der Betroffenen und der medizinischen Lösungen kommen neuerlich ins Zentrum gerückt. Das damalige Szenario ist daher aktuell, aber es wird nicht identisch mit der heutigen Lage. Der historische Kontext eines Staates, der „als Pest, in dem die Pest wütet“, bleibt bestehen; allein der zuteilen unterschwellig zynische Ton der Protagonisten wird viele Aussiedler- und Aussiedlerinnen an manches Schicksal aus den eigenen Familienbiographien erinnern können.