Die Blicke des älteren Herren schweifen fragend durch die Christus und Garnisonkirche in Wilhelmshaven. Wo sind denn die ganzen Flaggen hin?, hakt er schließlich bei Pastor Frank Morgenstern nach. Der Wilhelmshavener Seelsorger kennt diese Frage. Nicht zum ersten Mal erzählt er, dass die maritimen Flaggen, die bis zum Jahr 2000 von den Pfeilern im Kircheninneren hingen, abgenommen wurden, da sie vom Verfall bedroht waren.
Zwei der Flaggen, darunter die Standarte des Königlichen Hauses, wurden inzwischen mit Hilfe von Spenden renoviert, die Renovierung der restlichen Flaggen ist wegen fehlen der Geldmittel nach wie vor offen. Es wird nicht nur nach den Flaggen gefragt, sondern auch nach dem Kanonenrohr, das lange Zeit vor der Kirche platziert war, berichtet Morgenstern. Nach dem Ersten Weltkrieg sei die Kirche von der damaligen Gemeinde in extremster Form zu einem militärischen Museum geprägt worden. Vieles von dem, was heute noch das Kircheninnere prägt, hatte damals seinen Anfang.
Frank Morgenstern kann sich noch gut an seinen ersten Besuch in der Christus- und Garnisonkirche erinnern. 1994 wurde er nach Wilhelmshaven versetzt. Ich war nicht darauf gefasst, was mich erwartet, gibt der Theologe zu. Der erste Besuch war sehr eindrücklich. Die Flaggen hingen wie Fetzen von den Pfeilern, schildert er weiter. Ihm sei schon der Gedanke gekommen: Warum versetzen die gerade mich als Kriegsdienstverweigerer wie es damals noch hieß in diese Kirche. Schnell sei ihm aber klar geworden, dass es für Veränderungen vielleicht genau so einen linken Theologen wie ihn brauchte.
Die Veränderungen in Wilhelmshaven hat er dann zusammen mit dem heutigen Oldenburger Bischof Jan Janssen, der von 1997 bis 2002 Pastor in Wilhelmshaven war, und dessen Nachfolger Busemann angeschoben. Heute ist in der Christus- und Garnisonkirche die Vergangenheit zwar immer noch spürbar; darüber hinaus hat aber ein Wandel zur Kulturkirche stattgefunden, auf den Morgenstern und sein Kollege stolz sind. Gerade weil die deutsche Geschichte in dieser Kirche in vielem noch lebendig wirke, sei sie ein sehr guter Ort, um die Vergangenheit zu thematisieren.
1999 haben wir mit unserer ersten Lesungsaktion damit angefangen, erinnert sich Morgenstern. Seitdem hat es viele weitere Veranstaltungen gegeben, die in diesem Jahr mit Blick auf den Ersten Weltkrieg, dessen Beginn sich zum 100. Mal jährt, fortgeführt werden.
1872 wurde die Kirche in gotischer Form erbaut
Zum Glück interessiere ich mich sehr für Geschichte, sagt Morgenstern schmunzelnd. Und beginnt lebhaft über die Anfänge der Christus- und Garnisonkirche zu sprechen. 1872 war die Kirche als Backsteinbau in gotischer Form fertiggestellt worden. In den ersten 30 Jahren stand sie sowohl den evangelischen und katholischen Soldaten als auch den Zivilgemeinden beider Konfessionen zur Verfügung, da erst 1901 die Christuskirche, die später im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, als zivile Kirche errichtet wurde. Danach war die Garnisonkirche eine reine Soldatenkirche, berichtet Morgenstern.
Nach und nach fanden nach dem Ersten Weltkrieg unter den damaligen Garnisonspfarrern Ludwig Müller und Friedrich Ronneberger immer mehr maritime Erinnerungsstücke Platz in der Kirche. Das waren problematische Pastoren, sagt Morgenstern aus heutiger Sicht. So wurde Müller etwa 1933 zum Vertrauensmann Hitlers für Kirchenfragen und war zwei Jahre lang Reichsbischof der Deutschen Evangelischen Kirche.
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb eine starke militärische Prägung. Als 1957 im nördlichen Querschiff das Ehrenmal für die auf See gefallenen Deutschen beider Weltkriege feierlich eröffnet wurde, spaltete die Anwesenheit der beiden letzten Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, der Großadmirale Raeder und Dönitz die Gemeinde. Denn beide waren in Nürnberg als Kriegsverbrecher verurteilt worden. Dieses gespaltene Klima zog sich lange weiter, berichtet Morgenstern. Auch als die Kirche 1959 vom Bund an die zivile Gemeinde überging. Damals erhielt sie auch ihren heutigen Namen: Christus- und Garnisonkirche.
Heute geben wir den Biografien von allen in dieser Kirche Raum, sagt Morgenstern zufrieden. So sei es etwa nach wie vor vielen wichtig, dass an den Kirchenbänken die Wappen von Schiffen aus verschiedenen Epochen angebracht sind. Denn: Hinter all diesen Wappen verbergen sich Schicksale von gefallenen Marinesoldaten. Noch heute setzen sich Menschen immer wieder in die gleiche Bank, weil es in ihrer Familiengeschichte Marinesoldaten gab, die auf diesen Schiffen gedient haben und auch mit ihnen untergegangen sind, weiß Morgenstern. Er will Geschichte und Gegenwart in der Wilhelmshavener Kirche verbinden, denn für ihn ist beides untrennbar miteinander verbunden.
Ein Beitrag von Kerstin Kempermann, Evangelische Zeitung Oldenburg.