Während des Zweiten Weltkriegs wollte ein NS-Widerstands-Kreis aus Adeligen, Sozialdemokraten und Kirchenleuten ein anderes Deutschland. Auf einem schlesischen Gutshof entwickelten sie Konzepte dafür. Viele von ihnen bezahlten es mit dem Leben.
Berlin/Hannover (epd). Am Morgen des 9. Januar 1945 besteigen acht Männer vor dem Gefängnis in Berlin-Tegel einen Gefangenentransporter, ihre Hände sind gefesselt. Ziel ist der «Volksgerichtshof», ein Sondergericht der Nationalsozialisten zur Aburteilung von Hoch- und Landesverrat. Sein Präsident Roland Freisler gilt als Inbegriff des Nazi-Richters, der Beschuldigte demütigt und niederbrüllt.
Die acht Angeklagten gehören zum «Kreisauer Kreis» und sie müssen sich für ihren Widerstand gegen Hitler und die NS-Diktatur verantworten. «Sie beugten sich nicht dem Totalitätsanspruch der Nationalsozialisten», sagt der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, Johannes Tuchel. Allen droht die Todesstrafe.
Einer der Angeklagten ragt schon rein körperlich heraus: Helmuth James Graf von Moltke, Gutsbesitzer aus Schlesien, ist zwei Meter groß, sodass er sich zu Gesprächspartnern manchmal hinunterbeugt. Er ist der Urgroßneffe des preußischen Generalfeldmarschalls Helmuth von Moltke. Der Nationalsozialismus ist dem 37-jährigen Juristen zuwider. Das Hitler-Regime habe «entsetzliche Verwüstungen in den Köpfen und Herzen der Menschen» angerichtet, schreibt er.
Deshalb trifft er sich ab 1940 heimlich mit Gleichgesinnten, um über ein neues, anderes Deutschland nachzudenken. Die Treffen finden in Berlin und München statt, vor allem aber auf Moltkes schlesischem Gut Kreisau rund 60 Kilometer südwestlich von Breslau, dem heutigen Wroclaw. Auf dem früheren Gutshof im 200-Einwohner-Dorf Krzyzowa in Polen ist rund um das historische Schloss inzwischen eine Internationale Jugendbegegnungsstätte entstanden.
«Moltke und seine Freunde haben ein Gegenbild zur totalitären Struktur des Nationalsozialismus entworfen», erklärt Tuchel. «Das ist eine so deutliche und klare Form des Widerstandes, dass man es gar nicht deutlich genug hervorheben kann.»
Einige der Freunde stehen gemeinsam mit Moltke vor Gericht. Alfred Delp etwa, ein 37 Jahre alter Jesuitenpater aus München, er gilt bei den Kreisauern als Spezialist für wirtschaftliche und soziale Fragen. Der Sozialdemokrat Theodor Haubach, er ist Journalist und Philosoph, war schon im Konzentrationslager Esterwegen inhaftiert. Eugen Gerstenmaier, evangelischer Theologe und Konsistorialrat, gilt als Experte für Außenpolitik.
Als erster muss Delp dem Richter gegenübertreten. Und der lässt schon bald erkennen, in welchem Ton die Verhandlung verlaufen wird: «Sie Jämmerling, Sie pfäffisches Würstchen», fährt Freisler den Priester an. «Und so was erdreistet sich, unserem geliebten Führer ans Leben zu wollen.» Er macht deutlich, dass es ihm weniger um Delps Rolle bei der Vorbereitung eines Staatsstreichs geht, sondern um einen Frontalangriff gegen die Jesuiten und die Kirche, die er als Gegner des Nationalsozialismus sieht. «Eine Ratte - austreten, zertreten sollte man so was.»
Auch Moltke bekommt die Wut des Richters zu spüren, als er sich verteidigt. «Ein Orkan brach los», schreibt er in einem geheim übermittelten Brief aus der Gefängniszelle. «Er hieb auf einen Tisch, lief so rot an wie seine Robe und tobte: So etwas verbitte ich mir, so etwas höre ich mir gar nicht an.»
Zum Kreisauer Kreis zählen rund 20 Personen und noch einmal so viele Sympathisanten. In vielen Gesprächen, meist nur zu zweit oder zu dritt, entwickeln sie Konzepte für ein Deutschland nach dem Ende der NS-Herrschaft. Bis 1943 kommt die Gruppe zu drei Tagungen im Kreisauer «Berghaus» zusammen, das auf einer grünen Anhöhe etwas außerhalb des Gutshofes liegt. Die Grundideen der Kreisauer: die Wiederherstellung des Rechtsstaates, ein Ende nationaler Machtpolitik, ein geeintes Europa und Grundrechte für jeden Einzelnen. Von unten nach oben soll sich der demokratische Staat aus «kleinen Gemeinschaften» heraus aufbauen.
Weil sie die moralischen Werte durch den NS-Staat zerstört sehen, messen die Kreisauer dem Christentum eine wichtige Rolle zu. Das christliche Menschenbild soll die Grundlage der Bildung sein. In Kreisau habe «die Axt an die Wurzel des N.S. gelegt» werden sollen, schreibt Moltke kurz vor seinem Tod. Tuchel urteilt: «Der Wert des Christentums und christlicher Überlegungen kann für den Kreisauer Kreis gar nicht überschätzt werden.» Doch ab 1944 fliegt die Gruppe nach und nach auf.
Moltke, Delp, Haubach und der bayerische Offizier Franz Sperr werden wegen Hochverrats zum Tode verurteilt, die vier anderen zu Zuchthausstrafen. «Wir haben nur gedacht», schreibt Moltke. «Und vor den bloßen Gedanken hat der NS eine solche Angst, dass er alles, was damit infiziert ist, ausrotten will.»
Am 23. Januar 1945 - vor 80 Jahren - werden Moltke, Haubach und Sperr in der Hinrichtungsstätte Berlin-Plötzensee ermordet, wie schon andere Mitglieder des Kreises vor ihnen. Delp folgt am 2. Februar, sein Gnadengesuch wird abgelehnt. Ihre Asche wird über Felder zerstreut. Die Entwürfe der Kreisauer jedoch überdauern das Kriegsende unter den Dachsparren des Kreisauer Schlosses. Und ihre Ideen sind lebendig: Auf dem früheren Gutshof der Moltkes sind seit 1998 jedes Jahr rund 15.000 Jugendliche aus ganz Europa zu Gast.