Auch in digitalen Zeiten lesen gut zwei Drittel aller Eltern ihren Kindern aus Büchern vor. Die Bibliothekarin Heike Janssen verrät, welche Lektüre geeignet ist, wie gemeinsame Leserituale in den Alltag passen - und was sie Kindern ermöglichen.
Oldenburg (epd). Wer Kindern regelmäßig vorliest, stärkt ihre Sprachkompetenz, baut eine gute Beziehung zu ihnen auf und regt ihre Fantasie an. Dennoch liest laut dem aktuellen Vorlesemonitor der Stiftung Lesen rund ein Drittel aller Eltern ihren Kindern nur selten oder nie vor. Dabei gibt es kaum eine Beschäftigung, die sich unkomplizierter in den Alltag einbauen lässt und bei richtiger Lektüre-Auswahl auch den Erwachsenen Spaß macht, weiß die Leiterin Oldenburger Stadtbibliothek, Heike Janssen. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) verrät die Mitorganisatorin der bundesweit führenden nicht kommerziellen Kinder- und Jugendbuchmesse Kibum in Oldenburg, wie man bei den Kleinsten Begeisterung für Bücher weckt - und warum Lesen eher Ergänzung als Konkurrenz zu digitalen Unterhaltungsangeboten ist.
epd: Frau Janssen, warum sollte Kindern regelmäßig vorgelesen werden?
Heike Janssen: Durch das Vorlesen kommen Kinder früh mit der Sprache und Sprachvariationen in Berührung. Dadurch entwickeln sie einen größeren Wortschatz, der auch eine Grundlage für die Sprachentwicklung sowie für die spätere Lesekompetenz ist. Zudem fördert das Vorlesen die Konzentration und die Lesemotivation.
Auch die soziale und emotionale Entwicklung des Kindes wird unterstützt, da es durch die Geschichten lernt, sich in andere Personen hineinzuversetzen und mit Emotionen umzugehen. Vorlesen und Lesen regt zudem die Kreativität von Kindern an. Sie können in verschiedene Welten eintauchen, Neues und Vertrautes entdecken und ihrer Fantasie freien Lauf lassen.
epd: Welche Lektüre eignet sich am besten zum Vorlesen?
Janssen: Eigentlich alles, was das Interesse des Kindes weckt. Die Lektüre sollte zu seinem Alter, seinen Bedürfnissen und zu seiner Konzentrationsfähigkeit passen. Ganz wichtig ist es, Kinder aktiv in die Auswahl der Lektüre einzubeziehen. Wenn alles passt, wird der Spaß an Büchern und am Zuhören gefördert, und es entsteht eine positive Verknüpfung mit dem Thema Lesen. Aber auch der vorlesenden Person sollte die ausgewählte Lektüre gefallen. Wer sich beim Vorlesen langweilt, kann schließlich keine Begeisterung vermitteln.
epd: Ab welchem Lebensalter der Kinder sollte man mit dem Vorlesen anfangen?
Janssen: Von Anfang an. Bilder betrachten, Geschichten erzählen und natürlich auch vorlesen kann man bereits mit den Allerkleinsten.
Auch wenn sie den erzählten Inhalt anfangs nicht verstehen: Bücher mit einfachen Bildern und kurzen Texten vermitteln ihnen ein Gefühl für Sprache. Wer schon mit Babys in das Vorlesen einsteigen will, sollte Bilderbücher mit sehr einfachen Motiven und hohem Kontrast wählen, möglicherweise sogar mit Schwarz-Weiß-Abbildungen. Der Sehsinn eines Babys ist nämlich erst nach einigen Monaten voll ausgebildet.
epd: Wie baut man das Vorlesen am besten in den Alltag ein?
Janssen: Einfach damit anfangen. Vorlesen passt in jeden Alltag. Ob es zur Einschlafbegleitung genutzt wird, oder um etwas Ruhe in stressige Situationen zu bringen. Nach einiger Zeit entwickeln sich Routinen, und das Vorlesen kann zu einer gemütlichen Auszeit zwischendurch werden.
Wichtig ist auch, eine entspannte Lesesituation zu schaffen, die sowohl für den Vorlesenden als auch für das Kind angenehm ist. Wenn Kinder schon früh positive Assoziationen mit dem Lesen entwickeln, werden sie später eine höhere Lesemotivation haben. Daher sollte das Lesen nicht als Zwang empfunden werden. Es ist nicht schlimm, eine Geschichte abzubrechen oder nur die Bilder zu betrachten, wenn das Kind sich nicht mehr konzentrieren kann.
epd: Das Lesen hat - etwa durch Streaming-Anbieter und Computerspiele starke Konkurrenz durch andere Unterhaltungsmedien bekommen. Haben sich das Leseverhalten und die Lesekompetenz von Kindern und Jugendlichen dadurch verändert?
Janssen: Verschiedene Studien belegen, dass Kinder, die gut und gern lesen, einen bunten Mix an Medien nutzen und häufig sehr kompetent zwischen ihnen navigieren. Die vermeintliche Konkurrenz unter verschiedenen Unterhaltungsmedien muss also nicht zwingend problematisch sein.
Allerdings ist auch belegt, dass mit mangelnder Lesekompetenz auch eine mangelnde Medien- und Informationskompetenz einhergeht. Es ist also im Interesse aller, zunächst die Lesemotivation und Lesekompetenz zu fördern, um Kindern eine optimale Teilhabe an modernen Medienwelten zu ermöglichen.
Wenn Sie mich persönlich fragen: Ich bin ich davon überzeugt, dass der Konsum unterschiedlicher digitaler und analoger Medien - Bücher, Games, Streaming - Hand in Hand gehen kann und darf. Ein Medienmix kann Kindern und Jugendlichen unterschiedliche Kompetenzen und Spaßerfahrungen vermitteln. Auffällig ist, dass Kinder und Jugendliche ohnehin gern zu Büchern greifen, die von Charakteren geprägt sind, die sie aus bekannten Serien, Filmen oder Konsolen-Spielen kennen - etwa aus «PawPatrol», «Minecraft», der «Eiskönigin» oder «Miraculous».