Hannover (epd). Nach dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel vor einem Jahr ist die Zahl der gemeldeten Fälle von Judenfeindlichkeit in Niedersachsen sprunghaft angestiegen. Jüdinnen und Juden würden seit dem 7. Oktober 2023 vielfach gezielt bedroht und eingeschüchtert, auch über die sozialen Medien, sagte die Leiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Niedersachsen (RIAS), Katarzyna Miszkiel-Deppe, am Mittwoch dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Dunkelziffer sei hoch.
«Viele haben sich zurückgezogen», erläuterte die Sozialwissenschaftlerin. Sie hätten sich entschieden, in der Öffentlichkeit keine religiösen Symbole mehr zu tragen wie eine Kette mit einem Davidsstern oder eine Kippa, um nicht als Juden erkennbar zu sein. «Wir haben immer ein bestimmtes Grundrauschen von Antisemitismus», sagte Miszkiel-Deppe. «Aber zu bestimmten Ereignissen explodieren die Zahlen.»
Die Recherchestelle RIAS hat laut Miszkiel-Deppe allein seit dem 7. Oktober 2023 bis zum Ende des vergangenen Jahres insgesamt 132 Fälle von verletzendem Verhalten gegenüber Jüdinnen und Juden registriert. Hinzu kamen acht Fälle von gezielter Sachbeschädigung, sieben Angriffe und fünf Fälle von Bedrohung. Dadurch stieg die Zahl der gemeldeten Fälle von 206 im Jahr 2022 auf insgesamt 331 im Jahr darauf. «Der Trend setzt sich fort», sagte die Projektleiterin.
Unter anderem habe eine Jüdin im Landkreis Celle eine Morddrohung erhalten, nachdem sie sich auf Instagram als Jüdin zu erkennen gegeben habe. In Braunschweig sei eine jüdische Frau in einem Einkaufszentrum von zwei Frauen angerempelt worden, nachdem die beiden ein Bild der israelischen Fahne auf dem Handy der Jüdin bemerkt hatten.
In Hannover wurde eine Frau laut RIAS nach einer Pro-Israel-Kundgebung von einem Mann bespuckt. In Göttingen wurde ein Mann mit Kippa mit den Worten «Ich reiße dir deine kleine Mütze vom Kopf» bedroht. Ebenfalls in Göttingen wurde die Wohnungstür einer Jüdin mit den Worten «Free Palestina» markiert.
Miszkiel-Deppe wies zudem auf zahlreiche antisemitische Schmierereien im öffentlichen Raum hin, unter anderem im Oktober am Landtag in Hannover und im Januar in einem Tunnel in Hildesheim. Auf die Synagoge in Oldenburg sei im April ein Brandanschlag verübt worden. An der Gedenkstätte Ahlem in Hannover seien judenfeindliche Sticker aufgetaucht. Ebenfalls in Hannover sei eine Tafel am Holocaust-Mahnmal am Opernplatz attackiert worden.
Zudem verbreite sich der Hass auf Juden und auf Israel bei zahlreichen propalästinensischen Demonstrationen. Dabei werde zum Teil der Terror der Hamas gerechtfertigt und zum Widerstand erklärt. Parolen wie «Free Palestine from German Guilt» («Befreit Palästina von deutscher Schuld») kämen inzwischen nicht nur aus dem rechtsextremistischen Milieu, sondern unter anderem auch aus dem islamistischen Spektrum. «Antisemitismus dient als ein Amalgam für verschiedene Bewegungen», sagte Miszkiel-Deppe.
Besonders betroffen seien Schulen und Hochschulen. So hätten in einer Ausstellung über die Verbrechen der Nationalsozialisten an der Uni Göttingen rund 15 bis 20 Personen mit «Free Palestine»-Zetteln provoziert. Auf Schulhöfen würden Kinder mit den Worten «Du Jude» angesprochen. «Antisemitismus zieht sich durch alle Milieus», resümierte die Projektleiterin. Im Bildungsbereich wiege das besonders schwer, weil die Anwesenheit für die Betroffenen dort nicht freiwillig, sondern eine Pflicht sei.