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Ein Stimmenmeer durchflutet die Stadtkirche in Jever, eingefasst von Streicher- und Bläserklängen; drei Chöre stellen die konträren Positionen der Anhänger Roms und Anhänger Luthers sowie engelsgleicher Scharen dar: Mit der Aufführung seines berühmtesten Werkes, dem Luther-Oratorium „Luther in Worms“, ist der Komponist Ludwig Siegfried Meinardus nach über 150 Jahren gleichsam in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Im Rahmen der „Lutherdekade“ und des Kooperationsprojekts „Freiheitsraum Reformation“ traten am Samstagabend, 3. November, die Kantorei und das Sinfonie-Orchester der Kreuzkirche Bonn gemeinsam mit den Kinder- und Jugendchören der Evangelischen Kirche Bonn-Holzlar sowie sieben Solistinnen und Solisten unter der Leitung der Kirchenmusikdirektorin Karin Freist-Wissing in der Stadtkirche auf.

Pastor Holger Harrack konnte als Hausherr auch Nachfahren des Komponisten im Publikum begrüßen. Und es kamen noch weitere familiäre Bande an diesem Abend zum Tragen: so stellte Prof. Dr. Dagmar Freist, Schwester von Karin Freist-Wissing, von der Carl von Ossietzky Universität das Projekt „Freiheitsraum Reformation“ vor, das mit verschiedenen Veranstaltungen auf das Jubiläumsjahr 2017 vorbereitet und das Konzert in der Marienstadt initiiert hatte.

Oberkirchenrätin Annette-Christine Lenk von der oldenburgischen Kirche erinnerte in ihrem Grußwort an die Bedeutung der Reformation und ihre bis heute währende Gültigkeit im Hinblick auf das Glaubensleben und die Toleranz gegenüber Andersdenkenden. „Nichts darf bleiben, wie es ist − Auseinandersetzung bedeutet Veränderung. Dazu bereit zu sein, sich auf Veränderungen einzulassen, dabei niemals Gott und die Menschen aus dem Blick zu verlieren, ist die Herausforderung des Lebens schlechthin“, so Lenk.

Offenheit und Toleranz waren es auch, die Martin Luthers Reformationsgedanken vor einem halben Jahrtausend Schritt für Schritt zum Durchbruch verhalfen. Meinardus hatte erkannt, welch großartigen Stoff das beispiellose Leben des Reformators bot und dessen Gang nach Worms zum Inhalt seines Oratoriums in zwei Teilen für Soli, Chor und Orchester gewählt.

Ludwig Meinardus, 1827 in Hooksiel geboren und in Jever aufgewachsen, war von den führenden Komponisten seiner Zeit – Schumann, Mendelssohn-Bartholdy und Liszt – gefördert worden, die sein großes Talent erkannt hatten. 1871 schuf er sein Luther-Oratorium, das bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert als äußerst populäres Kirchenmusikwerk national und auch international aufgeführt wurde. Dann geriet das Oratorium quasi in einen Dornröschenschlaf – unverdienterweise und auch schwer nachvollziehbar, wie nun die großartige Aufführung in Jever bewies.

Luther, durch den Kirchenbann zum Ketzer erklärt, wurde von Kaiser Karl V. im April 1521 zum Reichstag nach Worms geladen, um seine Lehren zu widerrufen. Bereits die tagelange Anreise glich jedoch weniger einem Bußgang als vielmehr einem Triumphzug und auch in Worms wurde Luther jubelnd von der Bevölkerung empfangen. Zwei Mal musste er vor dem Kaiser erscheinen, der ihm nahelegte, seine Lehren zurückzunehmen. Luther sah jedoch keine biblisch fundierten Beweise gegen seine Thesen und konnte und wollte aus tiefster Überzeugung heraus nichts widerrufen. Der Kaiser entließ ihn und sicherte ihm 21 Tage freies Geleit zu. Anschließend verhängte Karl V. die Reichsacht über Luther: Er war nun vogelfrei. Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen gewährte Luther daraufhin Unterschlupf und ließ Luther auf die Wartburg bringen.

Als solistische Hauptfiguren hatte Meinardus neben Luther (Thomas Laske, Bariton) dessen Ehefrau Katarina (Sigrùn Pálmadóttir, Sopran), die Pilger Marta (Elisabeth Graf, Alt) und Justus Jonas (Mirko Roschkowski, Tenor), den Kaiser (Christoph Behrens-Watin, Tenor), dessen Beichtvater Glapio (Robert Fendl, Bass), den Kurfürst und Ulrich von Hutten (Christian Palm) gewählt. Die Sängerinnen und Sänger der Kantorei und der Kinder- und Jugendchöre stellen Pilger dar sowie die Anhänger Roms und Luthers, den Reichstag und das Volk.

Bereits der Auftakt gerät triumphal: die Instrumentalisten bringen bravourös die fein gesponnene und zugleich sehr intensive Melodik zum Tragen, die Chöre überzeugen von den ersten Silben an mit ihrer beeindruckenden Interpretation, sehr feinfühlig harmonisierend und voll mitreißender Ausdruckkraft. Als geschickter Kunstgriff erweist sich die Einbindung der sehr jungen Sängerinnen und Sänger, die mit außerordentlichem Talent und hörbarer Leidenschaft selbst die anspruchsvollsten Parts meistern.

Ebenso überzeugen die Solisten in ihren vielschichtigen Rollen: Sigrùn Pálmadóttir brilliert mit ihrer herrlichen, vollen Sopranstimme, Thomas Laske füllt die tiefe innere Bewegung Luthers mit großer Charakterintensität aus und Elisabeth Grafs warmer Alt erscheint in fast instrumentalem Klangspiel. Bereits die Rezitative geraten in prächtiger Farbigkeit, die auch Christoph Behrens-Watin, Mirko Roschkowski und Christian Palm mit hörbarem Genuss voll ausschöpfen. Robert Fendl entwirft wunderbar das zwielichtige Wesen Glapios, mal schmeichlerisch, mal hinterlistig, und dabei trotz der Dramatik stets gemessen.

Karin Freist-Wissing ist es gelungen, ihre Begeisterung für das wiederentdeckte Oratorium auf die Ausführenden zu übertragen. Sie setzte bei der Inszenierung dieses musikalisch so üppigen Werkes sehr bewusst auf das große Potenzial von Chor und Orchester und konnte somit sämtliche Stärken des ebenso dichten wie spannungsreichen und in seiner Gesamtheit einfach strahlend schönen Oratoriums zum Glänzen bringen.

Am Ende erhebt sich das begeisterte Publikum zu lang anhaltenden stehenden Ovationen. Der einzige Wermutstropfen: diese sensationelle Inszenierung wird vorerst ein einmaliges Hörerlebnis in Norddeutschland bleiben, CD-Aufnahmen gibt es leider (noch) nicht.

Ein Beitrag von Désirée Warntjen.

 

Hier finden Sie das <media 13646>Grußwort von Oberkirchenrätin Annette-Christine Lenk</media> im Format PDF.

Aufführung des Luther-Oratoriums „Luther in Worms“ von Ludwig Siegfried Meinardus in der Stadtkirche in Jever auf. Fotos: ELKiO/Désirée Warntjen
Die Bonner Kirchenmusikdirektorin Karin Freist-Wissing.