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Der starke Wanja war übrigens keineswegs immer schon so stark. Man erzählt sich, er habe ganze sieben Jahre im Haus einfach nur hinter dem Kachelofen gesessen. Dort in der wohligen Wärme knabberte er seine Sonnenblumenkerne. Ab und zu erprobte er seine Stärke und versuchte dazu, das Dach des Hauses nach oben zu stemmen. Da dies nicht möglich war, habe er jeweils ein weiteres Jahr dort ausgeharrt. 
   
Dort hinter dem Ofen. Wozu? Um Stärke zu sammeln, innere und äußere. Irgendwann sei es dann so weit gewesen. Er hob seine Hände und legte die Handflächen probeweise an die Decke, vorsichtig schob er die Handflächen nach oben. Und tatsächlich: das Hausdach löste sich von den Grundmauern, ein winziger Spalt im Raum entstand. Kalte Luft bahnte sich ihren Weg ins Innere. Wanja war überrascht -  er konnte das Dach mit Leichtigkeit anheben! Noch etwas breiter wurde der Spalt. Der starke Wanja erblickte den Sternenhimmel. Klar und weit. Zum ersten Mal nach so langer Zeit. Behutsam senkte er das Dach zurück auf die Mauern. Am nächsten Morgen verließ er das Haus. Er brach auf zu legendären Taten und Abenteuern. 
   
Manch einer, manch einem von uns mag das Leben im eigenen Haus gerade so ähnlich vorkommen. Die Zeit dehnt sich. Die Kerne der Sonnenblume schmecken gut und sie nähren, sie wecken aber auch die schmerzliche Sehnsucht nach den vollen braun-gelben Blüten der Sonnenblume, die mit ihren tiefgrünen Blättern im Sommer für Frische und Lebensfreude stehen.   
   
Eine Frau im Homeoffice mit vielen digitalen Konferenzen am Tag klagt: „Ich habe hunderte Kontakte und fühle mich an Ende allein!“. Eine andere Frau ruft früh morgens kurz entschlossen bei den Kirchennummern auf der Homepage an. „Ist da jemand, der mir zuhört?“ 
   
„Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!“ heißt es in der Bibel. Lockert die verkrampften Schulter- und Nackenmuskeln vom Homeoffice, schaut auf von euren Bildschirmen, „Sagt den verzagten Herzen: `Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott!`“  
   
Zuhause sein, im Haus sein – und dann? Wie geht es weiter? Wann sehen wir den klaren Sternenhimmel? Wann spüren wir den verheißungsvollen kalten Lufthauch des Draußen? Wann brechen wir lebensfroh zu neuen Taten auf? 
   
Der starke Wanja wurde anscheinend ja gerade dadurch stark, dass er sieben Jahre lang geduldig im Haus ausgeharrt hatte. Er wartete, bis es soweit war. Bis er so weit war. Sonnenblumenkerne waren seine Nahrung, ein Kachelofen wärmte ihn. Geduldig prüfte er seine Stärke. Am Schluss hatte es keine Gewichte oder Hanteln gebraucht, er nahm einfach nur zu allein durch die Wärme des Ofens und die Nahrung der Blumensamen, durch das Alleinsein und die Zeit. Dies ließ ihn seine innere und äußere Stärke entwickeln, am Ende sogar ein ganzes Hausdach in die Höhe zu stemmen.  Ausgeruht und tatendurstig brach er dann auf… 
   
Manche nutzen gerade die häusliche winterliche Zeit, um sich in aller Stille innerlich weiter zu entwickeln. Irgendetwas in ihnen möchte wachsen, irgendetwas möchte kommen. Sie nutzen die Zeit, um aufmerksam in sich hinein zu horchen. Was ist es? Ein neues Hobby, eine neue Aufgabe, ein neues Vorhaben oder eine andere Art des Lebens, des Umgangs miteinander? Was ist das Wahre, Klare, das in mir wachsen will? 
   
„In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Sagt Christus. Wie in einem Kokon darf ich mich geschützt entwickeln, in aller Ruhe mein inneres Gehör entwickeln für die feinen Töne und Stimmungen, die da in mir fließen und strömen. Erfahre innere Weite und Freiheit, entwickle ein ruhiges, angemessenes Mitgefühl für meine Mitmenschen. Ich spüre, auch wenn ich nicht sehe: In Menschlichkeit bin ich allen Menschen verbunden. In Gemeinschaft bin ich mit allen Christinnen und Christen verbunden in der Taufe, auch wenn ich sie gerade nicht sehe. Was wird kommen? Ich weiß es nicht. Ich atme und lehne mich wohlig an meinen wärmenden Ofen im Haus. Erwartungsvoll knabbere ich Sonnenblumenkerne. 

Julia Neuschwander – Pfarrerin, Leitung Referat Seelsorge

Foto: pixabay.com
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