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Wilhelmshaven (eb). Strahlender Sonnenschein am frühen Palmsonntagabend. Mit eindrücklichen Worten und selbst sichtlich bewegt trägt Eckhard Zeißler, stellvertretender Leiter des Pauline Ahlsdorff Hauses ein Gedicht vor: „Wenn ich einmal dement bin...“. Mehr als 150 Besucher stehen oder sitzen seit kurz vor 18 Uhr im Sinnesgarten des Altenwohnzentrums in der Wilhelmshavener Rheinstraße und hören ihm gebannt zu. Die anschließenden Klavier- und Saxofonklänge des „Duo Indigo“ lassen auch die Gedanken von Eckhard Zeißler noch einmal nachklingen. „Zerronnene Geschichte“ ist die heutige Andacht überschrieben, sie will an das Leid von Patienten erinnern, die sich nicht mehr erinnern können - und an ihre Angehörigen. Sichtlich berührt bleiben viele auch nach der Andacht noch eine Weile im Garten und erzählen: „Mein Vater ist stark Demenzkrank. Er erkennt mich nur noch, wenn er einen besonders guten Tag hat. Es tröstet mich so sehr den Gedanken mitzunehmen, dass vor Gott sein Leben nicht zerrinnt. Für mich fühlt es sich leider oft so an.“


„Innehalten – zur Ruhe kommen – nachdenken“, zum Auftakt der so genannten Passionspunkte, die in diesem Jahr zum neunten Mal an wunden Punkten Wilhelmshavens gefeiert werden, hat sich die Gemeinde der Christus- und Garnisonkirche diesen Ort ausgesucht, an dem Menschen leben, die sich immer mehr von ihrer Geschichte und ihren Familien entfernen. Heil und Unheil liegen hier wie anderswo dicht beieinander. In der Woche vor Ostern ziehen sich die Passionspunkte seit 2001 wie eine geistliche Perlenkette durch die Südstadt Wilhelmshavens und um den Großen Hafen. Ob am Dienstag in der ehemaligen Torpedowerft am Südstrand, dem heutigen Wattenmeerhaus, am Mittwoch am Fliederdeich, dem ehemaligen Seeflughafen Wilhelmshavens oder am Samstag am ehemaligen Truppenbunker auf dem Gelände der Banter Kaserne: immer wird die Vergangenheit in Beziehung zur Gegenwart gesetzt und im Lichte des Glaubens betrachtet.

 

Auch selbstkritische Töne kommen nicht zu kurz, wenn die Gemeinde der Passionspunkte am Montag auf dem Dach der Sparkasse zum Stichwort „Geplatzte Träume“ auf die Finanzkrise und ihre Auswirkungen in der Kirche zurückblickt oder am Gründonnerstag die Aufmerksamkeit in der Christuskirche auf den früheren Marinedekan Friedrich Ronneberger und seine unterschiedlichen Facetten gelenkt wird. „Ich habe Ronnebergers Stimme immer noch im Ohr. Die Zwiespältigkeit seiner Person in unserer Kirche hat mich sehr berührt“, meint eine Besucherin im Anschluss. Am Karfreitag bringt der Passionspunkt den Besuchern unter dem Stichwort „Ansprechende Leere“ die aktuelle Ausstellung in der Kunsthalle näher und bezieht sie auf die Leere des Karfreitags.

 

Die Grundform ist seit 9 Jahren weitgehend gleich und vielleicht ist es auch gerade das Wiederkehrende, Vertraute, das viele Besucher bei aller Andersartigkeit dieses Gottesdienstes besonders schätzen. Ein fester Ort ist jedes Jahr gesetzt: Am Gründonnerstag ist der Passionspunkt immer in der Christus- und Garnisonkirche, wie immer mit dem gemeinsamen Abendbrot, mit dem an Jesu Abendmahl erinnert wird. Vor einigen Jahren kam als fester Ort für den Karfreitag die Kunsthalle dazu. Die anderen Orte sind jeweils verschieden, manche ungewöhnlich wie das Dach der Sparkasse oder ein alter Truppenbunker aus dem 2. Weltkrieg, die Geschichte anderer bekannter Orte wird im Laufe der jeweiligen Andacht freigelegt. Alle ausgewählten Brennpunkte in der Südstadt haben etwas mit Leiderfahrungen zu tun. Hinzu kommt jeweils besondere Musik: Jazz, Rock und Popmusik gehört ebenso dazu wie Akkordeon und Gesang, zwei unterschiedliche Bläsergruppen und ein Chor. Ein Fachmann oder eine Fachfrau informieren über den jeweiligen Ort, einer der beiden Pastoren Bernhard Busemann oder Frank Morgenstern schlagen in einer Kurzpredigt die theologische Brücke zum entsprechenden Abschnitt der Geschichte Jesu vor Ostern.


Die Zahl der Besucher hat sich in den letzten Jahren ständig vergrößert. Kamen zu Beginn 20 bis 30 Personen zu den einzelnen Andachten, waren es in diesem Jahr so viel wie noch nie: fast 200 auf dem Dach der Sparkasse am Montag, selbst zur Station am Fliegerdeich am Mittwoch bei Dauerregen waren es fast 100. Einige kommen schon seit Jahren fast regelmäßig zu diesen besonderen Andachten, andere haben davon in der Zeitung gelesen, wurden neugierig und kommen öfter. „Etwa die Hälfte sehen wir sonst nie im Gottesdienst“, sagen die beiden Pastoren Bernhard Busemann und Frank Morgenstern, „aber hier sind sie dabei“. „Wenn die Menschen den Weg nicht in die Kirche finden, dann muss die Kirche eben zu den Menschen gehen“. Und das kommt an. Für eine Paar aus Nordrheinwestfalen steht die Woche vor Ostern in Wilhelmshaven inzwischen fest im Kalender: „Wir planen unseren Urlaub an der Küste so, dass wir zu den Passionspunkten hier sind. Seit Jahren haben wir keinen verpasst.“ Auch die Einheimischen stellen sich auf den abendlichen Rhythmus ein: „Ich habe meine Geburtstagsgäste dieses Jahr am Vormittag eingeladen, damit ich auf jeden Fall zum Passionspunkt mit Tischabendmahl kommen kann.“ Manche nehmen seit Jahren erstmals wieder am Gründonnerstag am Abendmahl teil. Je weiter die Karwoche fortgeschritten ist, umso mehr Menschen fühlen sich angesprochen.
Die letzte Station am Karsamstag am ehemaligen Truppenbunker auf dem Gelände der Banter Kaserne hat es noch einmal in sich. Die „Betonierte Angst“ zwischen Karfreitag und Ostermorgen ist hier beinahe mit Händen zu greifen. Währenddessen wärmt die Abendsonne die fast 150 Besucher und begleitet sie auf dem Heimweg mit der Gewissheit: Dies ist nicht das Ende, sondern der Beginn einer neuen Hoffnung.