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Karsamstagabend um kurz nach sechs. Auf einem alten Wilhelmshavener Friedhof hinter dem Pumpwerk in der Nähe des Handelshafens versammeln sich rund 70 Menschen zu einer Abendandacht. Die meisten sind vorher noch nie hier gewesen. Kein Wunder, wurde der Friedhof doch bereits 1908 zum letzten Mal belegt. Nur noch wenige Grabsteine erinnern an den Ort als letzte Ruhstätte der Toten. Nach Gitarrenmusik und der Begrüßung durch Pastor Frank Morgenstern folgen ein gemeinsam gebeteter Psalm, umrahmt von Liedversen. Dann übergibt Morgenstern an Bürgermeisterin Ursula Aljets, „das historische Gewissen unser Stadt“. Sie informiert über die Geschichte des Friedhofs. Nach Liedvers und einem Abschnitt aus dem Evangelium folgt eine Kurzpredigt durch Pastor Morgenstern, anschließend „Vater unser“, Segen und Instrumentalmusik. Nach einer halben Stunde geht die Andachtsgemeinde auseinander, nachdenklich und auch ein wenig frierend. Doch das liegt nicht am Thema, eher am Wetter: Denn viel Kraft hatte die Frühlingssonne an diesem Abend noch nicht. Einige Teilnehmerinnen treffen sich am nächsten Tag in einem der Ostergottesdienste, andere sehen sich erst in einem Jahr wieder. Das war der letzte „Passions-Punkt“ in diesem Jahr.

Bereits zum 4. Mal hatte die Gemeinde der Christus- und Garnisonkirche zu „Abendandachten an wunden Punkten der Südstadt“ eingeladen. Täglich um 18 Uhr, von Palmsonntag bis Karsamstag kamen so zwischen 50 und knapp 100 Menschen zusammen. Je weiter die Karwoche fortgeschritten war, um so mehr machten mit. „Die Hälfte sind keine Gottesdienstbesucher“, hat Pastor Morgenstern beobachtet, „die erreichen wir sonst selten“. Die meisten sind der Kirche zwar freundlich gesonnen, „aber eigentlich ist das nicht meine Welt“. Manche kommen seit vier Jahren nur zu den Passions-Punkten. Und das regelmäßig.

„Das letzte Mal war ich vor 20 Jahren beim Abendmahl', sagt eine Frau. Das war am Gründonnerstag. An diesem Tag findet der Passions-Punkt traditionell in der Christuskirche statt, mit Abendmahl und anschließendem Abendessen in der Kirche. Diesmal stand dort das sogenannte „Mahnmal“ im Mittelpunkt, eine kryptaähnliche Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Die übrigen Orte sind weltlicher Art, größtenteils vergessene Winkel der Stadt, dies sonst kaum jemand wahrnimmt, jedoch Orte mit historischer Brisanz. Ein alter Luftschutzbunker gehörte in diesem Jahr ebenso dazu wie ein Marinewaschhaus oder das ehemalige Kolonialmuseum im Logenhaus. Dies wie auch die Denkmäler von Prinz Adalbert und des Werftarbeiters sowie die leergeräumte Kunsthalle liegen alle auf dem Gemeindegebiet der Christuskirche.

Die Gründe für die Anziehungskraft der „Passions-Punkte“ sind verschieden. Manche kommen aus Interesse an der Stadtgeschichte, anderen gefällt besonders die Verknüpfung von Theologie, Glaube und Historie. Einige wollen einfach die Passionszeit anders, persönlicher erleben. „Das hat mir geholfen, die Abschiede in diesem Jahr besser zu verstehen“, sagt ein älterer Mann. Ein anderer ist nach eigenem Bekunden „eher durch Zufall hier reingerutscht“. Dann war er an jedem Tag da. Ob Zufall oder Mund zu Mundpropaganda: Die Zahl der Teilnehmer/innen ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Zwischen 500 und 600 waren es insgesamt in diesem Jahr, so viele wie noch nie. „Diesmal waren auch deutlich mehr in der Osternacht, die diesen Punkt bewusst als Abschluss gewählt haben“, freut sich Morgenstern. Schon während der Woche hatte sich unter den Teilnehmern eine besondere Verbindlichkeit entwickelt: So nimmt ein Unbekannter nach einer Andacht den Pastor zur Seite: „Ich kann morgen nicht kommen, nur dass Sie sich nicht wundern. Aber dann bin ich wieder da.“

„Die ausgewählten wunden Punkte der Stadt haben allesamt etwas mit Leid zu tun“, erläutert Frank Morgenstern gemeinsam mit seinem Kollegen Bernhard Busemann das Konzept. Fachleute oder persönlich Betroffene erklären den Ort, die jeweiligen Musiker interpretieren ihn mit ihrem Instrument. Wiederkehrende Texte bieten ein Gerüst zum Festhalten, während ein Theologe die Verbindung schafft. „Keiner soll mehr als fünf Minuten reden.“

In dieser Form sind die Passions-Punkte rund um die Wilhelmshavener Christuskirche einzigartig in Deutschland. Das gilt inzwischen auch für die Tradition. Keine Frage also, dass die Reihe dieser Abendandachten in der Karwoche auch im nächsten Jahr fortgesetzt wird. Auch wenn es nach Meinung von Frank Morgenstern langsam schwieriger wird, neue, bisher „unbekannte“ Orte zu finden, „aber drei bis vier haben wir schon“.

Rüdiger Schaarschmidt