Es ist eine ganz besondere Stimmung in der St.-Florian-Kirche in Sillenstede, als Katja Thimm am Donnerstagabend, 8. November, aus ihrem Buch Vatertage Eine deutsche Geschichte liest. Das Buch ist mit dem evangelischen Buchpreis 2012 des Evangelischen Literaturportals ausgezeichnet worden. Zwei Lesungen waren für den Bereich der oldenburgischen Kirche vorgesehen, eine davon am Mittwochabend im evangelischen Nikolai-Gemeindezentrum in Oldenburg-Eversten, die andere in dem kleinen friesischen Dorf.
Die Kirche aus dem 12. Jahrhundert, die größte Granitquaderkirche in Friesland, ist an diesem Abend nur spärlich beleuchtet. Vor dem großen Flügelaltar ist ein kleines Podest, das liebevoll mit Stoffen, Blumen und Kerzen gestaltet ist, aufgebaut. Marlies Klein, Heide Keunecke, Petra Meyer-Machtemes und Maike Oltmanns, die hier zu einem Kreis der evangelisch-öffentlichen Bücherei gehören, der regelmäßig in den Wintermonaten Lesungen veranstaltet, freuen sich, dass es ihnen gelungen ist, diese besondere Lesung nach Sillenstede zu holen.
Unter den Zuhörern ist auch Bischof Jan Janssen, zugleich Vorsitzender des Evangelischen Literaturportals, der zuvor das Publikum in der voll besetzten Kirche begrüßte und die Bedeutung von Erinnerungen und Begegnungen unterstrich, die sich gegen das Vergessen aufbäumen. Es sei eine Freude und auch eine große Hilfe, den eigenen Weg zu finden, wenn man die Geschichte der Eltern und Großeltern entdecke.
Nur wenige Sätze und es herrscht gebannte Stille in dem Kirchenraum, von dem Katja Thimm später sagt, sie habe noch nie in einem schöneren Raum gelesen. Vatertage, ein Sachbuch, das die Lebensgeschichte des Vaters der Autorin aufgreift. Jahrgang 1931 erlebt er als Kind und Jugendlicher Krieg und Flucht mit, sitzt später im DDR-Gefängnis ein und verschließt all die vielen grausamen Bilder in sich. So wie viele das getan haben in den Jahren.
Katja Thimm beschreibt ein individuelles Schicksal, das zugleich auch Schicksal einer ganzen Generation von Kriegskindern ist. Erst spät, da ist sie schon längst erwachsen, gelingen erste Gespräche. Sie fährt mit ihrem Vater in die frühere Heimat nach Masuren. Dann kommt der langsame körperliche Verfall, die Kraft geht zu Ende, der Vater kann allein nicht mehr leben, zieht in ein Seniorenheim. Nicht freiwillig. Er hasst Abhängigkeit.
Diese Begegnungen, die Gespräche sind Thema des Buches. Katja Thimm beschreibt in klaren, einfachen Sätzen, bleibt überaus sachlich, ohne dabei die emotionale Dichte zu verlieren. Das weiß sie auch in ihrer Lesung zu vermitteln, die einen im Innersten berührt. Sie macht Mut, das Schweigen zu brechen, verschweigt aber auch die Schwierigkeiten nicht.
Thimm ist im Jahr 1969 in Köln geboren, studierte Politikwissenschaften Romanistik und Neuere Geschichte. Sie war Redakteurin beim Stern, beim NDR-Fernsehen und im Wissenschaftsressort des Spiegel. Seit 2009 ist sie Reporterin beim Spiegel. Für ihre Arbeiten hat sie unter anderem den Egon-Erwin-Kisch-Preis erhalten.
Der Evangelische Buchpreis wird seit 1979 jährlich verliehen. Die prämierten Werke sollen dazu anregen, über das menschliche Miteinander und das Leben mit Gott nachzudenken. Der Verband Evangelisches Literaturportal mit Sitz in Göttingen ist ein Dienstleister für den Dachverband der etwa 1.000 evangelischen Büchereien in Deutschland.
Ein Beitrag von Annette Kellin.