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epd-Gespräch: «Aktion Neustart» hilft beim Ausstieg aus extremistischen Szenen

Hannover (epd). Rechtsextremismus, Islamismus, Linksextremismus: Seit 2010 berät «die Aktion Neustart» ausstiegswillige Extremisten in Niedersachsen. Dieter Uden leitet das Präventionsprogramm des Verfassungsschutzes. Extremisten seien in den seltensten Fällen politische Überzeugungstäter, sagt der 54-jährige Polizist und Kriminologe. Vielmehr seien psychosoziale Schwierigkeiten, dysfunktionale Familienverhältnisse und mangelndes Selbstwertgefühl die Gründe dafür, dass Menschen in extremistische Ideologien abrutschen. Der Weg heraus dauert lang - oft mehrere Jahre. Insgesamt haben mithilfe von «Aktion Neustart» 90 Personen seit 2010 den Ausstieg geschafft. Rund 40 werden aktuell betreut.

epd: Herr Uden, welche Extremismus-Richtungen deckt die «Aktion Neustart» ab und welche Qualifikationen haben die Berater?
Dieter Uden: «Aktion Neustart» ist für alle extremistischen Phänomene zuständig: seit der Gründung 2010 für Rechtsextremismus, seit 2016 für Islamismus und seit 2019 für Linksextremismus. Dazu kommen die extremistische Scientology-Organisation sowie extremistische Bewegungen mit Auslandsbezug, etwa die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder die rechtsextremen «Grauen Wölfe» aus der Türkei. Unsere Berater sind Polizisten, Pädagogen, Psychologen und Politologen. Wir bilden uns regelmäßig fort, absolvieren Antiaggressions- und Deeskalationstrainings und Seminare etwa in Systemischer Beratung.

epd: Was bringt ein guter Berater an Fähigkeiten mit?
Uden: Er sollte eine starke Persönlichkeit haben und menschlich zugewandt, aufrichtig, authentisch sein. Es geht um Vertrauen, darum, eine Beziehungsebene aufzubauen. Die Klienten müssen spüren, dass man Interesse an ihnen hat. Ich erzähle ihnen mal von einem Fall, der das deutlich macht: 2011 rief mich eine Mutter an, die sich um ihren Sohn sorgte, der in der rechtsextremen Szene war. Ich wurde dem Jungen als jemand vom Verfassungsschutz vorgestellt, der mit ihm sprechen möchte. Das taten wir auch. Neulich traf ich den jungen Mann wieder. Er sagte, er habe sich damals vorgenommen, das Gespräch über sich ergehen, sich aber nicht umstimmen zu lassen. Doch es kam anders, weil er spürte, dass da jemand war, der es ernst mit ihm meinte, der wirklich helfen wollte.

epd: Kommen meist Ausstiegswillige oder ihre Angehörigen auf Sie zu oder suchen Sie auch den Kontakt in die Szene?
Uden: Beides. An uns wenden sich Menschen, die erste Ausstiegsgedanken in sich tragen oder schon einen konkreten Ausstiegswillen haben, aber nicht wissen, wie sie der Szene den Rücken kehren können, und um Unterstützung bitten. Wir sprechen darüber hinaus von uns aus Menschen in extremistischen Szenen an, von denen wir nicht wissen, wie weit ihre Ausstiegswünsche gediehen sind und ob sie überhaupt aussteigen wollen. Die Motivation, auf die wir treffen, ist höchst unterschiedlich.

epd: Wie alt sind die Menschen, die Sie beraten, wie ist der Anteil von Frauen und Männern und wie lange dauern die Beratungen?
Uden: Sie sind etwa zwischen 14 und 40 Jahre alt. Der Altersdurchschnitt insgesamt liegt bei 22 Jahren. Der überwiegende Teil sind Männer, nur rund zehn Prozent Frauen. Die meisten Beratungen dauern mehrere Jahre - das ist ein langer Prozess.

epd: Welche Menschen fühlen sich von extremistischen Ideologien angezogen?
Uden: Oft sind es junge Menschen aus schwierigen Elternhäusern, in denen es Defizite in der Erziehung gibt. Die Rolle des Vaters ist oft ungut, entweder weil er sich gar nicht kümmert oder weil er zu autoritär ist. Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen, Mobbing in der Schule etwa, spielen auch eine Rolle. Extremisten haben häufig Minderwertigkeitskomplexe. Manche berichten von Schlüsselerlebnissen, die ihre Gesinnung geprägt haben. Ein Klient etwa wurde von einer Gang mit Migrationshintergrund verprügelt. Geholfen haben ihm Leute aus dem rechten Spektrum, so hat sich sein Feindbild manifestiert.
Die meisten Menschen schließen sich nicht aus rassistischen Motiven den Rechtsextremen an, sondern weil sie eine Gemeinschaft suchen, in der sie Anerkennung erfahren. Niemand, der zufrieden ist, wird zum Extremisten.

epd: Aus welchen Gründen kehren Extremisten ihrer Szene den Rücken?
Uden: Viele sagen auf diese Frage, dass sie Ruhe wollen - Ruhe vor staatlichem Druck, Strafverfolgung, Anfeindungen anderer extremistischer Gruppen. Sie melden sich, weil sie ihren Arbeitsplatz verloren haben, weil sie verprügelt wurden. Sie merken, dass das, was sie in der extremistischen Gruppe erleben, nicht dem entspricht, was die Gruppe nach außen als Leitbild kommuniziert. Das sorgt für erste Irritationen und kann eine kritische Reflektion einleiten. Nehmen Sie das Thema Meinungsfreiheit: Das wird oft sehr hoch gehängt. Und dann merken unsere Klienten: Wenn ich aber meine Meinung sage, werde ich verprügelt.

epd: Welche Probleme gibt es beim Ausstieg und wie kann «Aktion Neustart» helfen?
Uden: Je nachdem, wie lang jemand in der Szene war, kann dort sein gesamter Lebensmittelpunkt liegen, und es gibt kaum noch andere Menschen außerhalb der extremistischen Szene. Einsamkeit ist deshalb oft ein Problem. Die Menschen müssen sich alles neu suchen: Freunde, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz. Dabei helfen wir. Wir legen, sofern gewünscht, ein gutes Wort bei den Arbeitgebern für sie ein. Geduld und Beharrlichkeit sind in dieser Phase gefragt, aufmunternde Worte wichtig. Ein neuer Arbeitsplatz bedeutet nicht nur Geld, sondern auch Alltagsstruktur und ein neues soziales Umfeld. Das gibt Stabilität. Auch beim Löschen der Spuren in den sozialen Netzwerken unterstützen wir. Und wenn es nötig ist, auch beim Namens- und Wohnortwechsel - das sind aber Ausnahmen.

epd: Auf Sylt sangen jüngst junge Leute volksverhetzende Parolen zur Melodie eines italienischen Partysongs. Die rassistischen Gesänge sind seitdem häufiger auf Schützenfesten oder Partys zu hören. Ist das der Einstieg in den Extremismus?
Uden: Das sollte differenziert betrachtet werden. Es ist ein unsäglicher Tabu-Bruch, der alle aufregt - vollkommen zu Recht. Ich sehe das aber eher als pädagogische Aufgabe. Man muss im Einzelfall schauen, was dahintersteckt. Es ist nun mal das Vorrecht der Jugend zu provozieren. Ich würde davor warnen, alle über einen Kamm zu scheren und zu stigmatisieren. Sonst besteht die Gefahr, der selbsterfüllenden Prophezeiung - so nach dem Motto: Ihr sagt, ich bin rechtsradikal, dann bin ich es halt.

Info
Menschen, die aus der Extremistenszene aussteigen wollen und nach Informationen und Hilfe suchen, haben verschiedene Möglichkeiten, Kontakt zur «Aktion Neustart» aufzunehmen:
Die Hotline-Nummer lautet: 0172/4444300
Facebook: www.facebook.com/aktionneustart.niedersachsen 
Instagram: www.instagram.com/aktion_neustart/ 
YouTube: http://u.epd.de/32cz 
TikTok: www.tiktok.com/@aktion.neustart 

Internet
«Aktion Neustart»: www.aktion-neustart.de/auf-einen-blick/ 
Niedersächsischer Verfassungsschutz: u.epd.de/3260 Niedersächsischer Verfassungsschutzbericht 2023 («Aktion Neustart» ab Seite 337): http://u.epd.de/3262  www.verfassungsschutz.niedersachsen.de