Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, hat dazu aufgerufen, stärker auf das Positive in den gesellschaftlichen Veränderungen zu achten. Die Kirche in einer modernen pluralistischen Gesellschaft brauche Menschen aus allen Schichten und Milieus mit vielen unterschiedlichen Fähigkeiten sagte der bayerische Landesbischof am Donnerstagabend in Oldenburg. Der Theologe war Gastredner bei einer theologischen Fachtagung der Universität Oldenburg zum Thema Theologie im Diskurs". Anlass für das Symposium war der 60. Geburtstage der Systematischen Theologin Professorin Ulrike Link-Wieczorek und des Neutestamentlers Professor Wolfgang Weiß.
Heute denkt jeder nur noch an sich, so werde es immer wieder gesagt. Es wird ein Gefühl zum Ausdruck gebracht, dass Gemeinschaft etwas ist, was immer brüchiger geworden ist, sagte Bedford-Strohm als Einleitung in seinen Vortrag Wer ist mein Nächster? Gemeinschaft in der modernen Gesellschaft. Doch diese Einschätzung widersprach der Theologe und nahm die Begriffe Pluralismus, Individualisierung und Gegenseitigkeitsorientierung unter die Lupe. Diese drei Begriffe führten nicht zwingend dazu, dass Gemeinschaft verloren gehe. Vielmehr gelte es, auch aus kirchlicher Sicht, die Chance in diesen drei Entwicklungen zu sehen. Wir müssen nicht gleich werden, um uns zu verstehen, betonte der Ratsvorsitzende mit Blick auf den Pluralismus. Auch die individuelle Freiheit sei etwas durchweg Positives. Denn Freiheit und Gemeinschaft könnten nicht gegeneinandergestellt werden, das habe schon Luther deutlich gemacht. In Bedford-Strohms Verständnis von Individualisierung geht es eben nicht um Individualismus, sondern um persönliche Freiheit, aus der Engagement für den Nächsten erwachsen kann. Mit Blick auf die Gegenseitigkeitsorientierung betonte Bedford Strohm, dass Nächstenliebe, Gottesliebe und Selbstliebe zusammengehörten. Es gehe nicht um ein kapitalistisches Geben und nehmen, sondern darum wahrzunehmen, wie man durch andere bereichert werde. In einer modernen Gesellschaft entstehe Gemeinschaft heute durch das Zusammenspiel vieler Menschen zum Wohle aller.
Für die Kirche bedeuten diese Entwicklungen, dass sie sowohl hochverbundene Menschen brauche, die sich stark mit ihrer Gemeinde identifizierten. Andererseits sei die Kirche aber auch auf Menschen angewiesen, die nur einen losen Kontakt zu ihrer Gemeinde hielten, weil sie anderswo aktiv seien. Diese Kontakte zwischen der Gemeinde und Vereinen, Initiativen oder etwa der Freiwilligen Feuerwehr seien wichtig, auch wenn sie nur schwache Kontakte seien. Der Landesbischof ermutigte auch, an der traditionellen Liturgie festzuhalten, diese sei ein wichtiger Schatz. Dennoch sei es auf einer zweiten Spur wichtig, auf die Pluralisierung der Gesellschaft zu reagieren und flexible Angebote zu machen.
Neben dieser innerkirchlichen Schiene sei es aber sehr wichtig, dass die Kirche vital in die Zivilgesellschaft einwirke. Wir müssen deutlich machen, warum die Grundorientierungen, die wir anbieten wichtig sind und das es einer Gesellschaft gut tut, wenn sie auf die Schwachen achtet. Die Kirche müsse auf Verletzungen von sozialer Gerechtigkeit und die Missachtung der Rechte von Schwachen in aller Klarheit aufmerksam machen, forderte Bedford-Strohm. Dies zeigten Kirchengemeinden etwa beim Einsatz für die Flüchtlinge in Deutschland.
Der Oldenburger Bischof Jan Janssen erinnerte in seinem Grußwort an Oldenburgs reiche Erfahrung im Aufbau von Gemeinschaft vor allem mit Menschen, die hier in vielfacher Weise eine neue Heimat suchten und suchen: mit Flüchtlingen nach dem zweiten Weltkrieg mit einer Verdoppelung der Bevölkerungszahl, mit Aussiedlern im Zuge des zu Ende gehenden Kalten Krieges mit wachsenden Gemeinden südlich von Oldenburg bis heute. Zu diesen guten Erfahrungen von Gemeinschaft zähle auch das vertraute Miteinander mit syrisch-orthodoxen Christen und der Yezidischen Gemeinschaft. Solche Prozesse der Kurssuche und des konstruktiven Miteinanders bilden eine tragfähige Grundlage für Gemeinschaft und haben uns Gott sei Dank bisher auch vor einer ernst zu nehmenden Olgida-Bewegung bewahrt, sagte Janssen.
Kerstin Kempermann