„Stopp – ich habe eine Idee“, sagt eine der Frauen. Alle bleiben stehen, schauen gespannt, warten ab. Man könnte noch diese oder jene Requisite hinzu nehmen, einen Bewegungsablauf verändern, die Position der Hauptperson zum Publikum verändern. Die Gedanken und Ideen fließen nur so. Die Szene entwickelt sich, sie ist nicht vorgegeben, sie wächst beim Spiel, Veränderungen sind möglich und erwünscht, jederzeit bis zum letzten Augenblick. Nur bei der Premiere muss alles sitzen. „Aussichten“ heißt das Stück, das bei der Jungen Landesbühne in Wilhelmshaven in einem Projekt mit geflüchteten Frauen entstanden ist. Die Premiere ist am Freitag, 24. März, um 19:30 Uhr im TheOs am Bontekai eine weitere Vorstellung ist für Donnerstag, 30. März, zur gleichen Uhrzeit vorgesehen.
Initiiert und begleitet wird das Projekt von Anna-Lena Rode. Die 30-jährige Theaterpädagogin und Dramaturgin ist seit August letzten Jahres bei der Jungen Landesbühne beschäftigt. In der Arbeit mit Flüchtlingen bewegt sie vor allem, dass die Position der Frauen oft so wenig gesehen wird. „Männer stehen meist im Mittelpunkt, was die Frauen bewegt, darüber bekommt man wenig mit“, sagt sie. Das soll sich ändern. In dem Projekt, das im Januar an den Start ging, hat sie erlebt, dass vieles ganz anders ist, als sie es zunächst gedacht hatte, viele Bilder über das Leben von geflüchteten Frauen haben sich ganz neu geordnet. So könnte es auch den Zuschauern gehen.
Was zunächst mit ganz wenigen Frauen begann, hat doch im Laufe der Wochen Kreise gezogen. Und das ist auch gut so. Denn beim biografischen Theater werden die individuellen Geschichten der Frauen aufgenommen. Und da soll es doch eine möglichst vielfältige Sichtweise geben. „Jede Szene gehört einer einzelnen Frau“, sagt Rode. Gegenseitig haben sie sich ihre Geschichten erzählt, die Theaterpädagogin hat sie alle aufgenommen und später in prägnante Sätze geformt, die nun auf der Bühne Eindruck hinterlassen. „Es sind die Sätze der Frauen – ich habe sie nur in Form gebracht“, erklärt die Dramaturgin.
Da geht es um die Ankunft in einer fremden Stadt, um Angst, um Orientierungslosigkeit, um erste Freude, um Perspektiven, um Hoffnung. Jede einzelne Szene berührt die Zuschauer.
Wie die Gruppe mit den unterschiedlichen Sprachen klarkommt? „Die Frauen haben eine Art eigene Sprache entwickelt“, hat Rode beobachtet. Einmal in der Woche steht der Gruppe auch eine Dolmetscherin zur Verfügung, doch wenn die nicht da ist, gibt es andere Möglichkeiten. Da ist zum Beispiel Noor, die 12-jährige Tochter von Fadeah, die schon sehr gut als Übersetzerin tätig ist. Noor hat durch den täglichen Kontakt mit deutschen Kindern und Jugendlichen in der Schule schnell große Fortschritte gemacht. Oder Heba. Die 22-Jährige ist mit ihrem Freund vor gut drei Monaten aus Syrien gekommen, hat aber schon in der Heimat über das Internet Deutsch gelernt und kann vielen anderen Frauen eine Hilfe sein. Sie hofft bald in Deutschland weiter studieren zu können. „Wenn ich mehr Deutsch lerne, wird alles einfacher“, sagt sie. Das ist auch ihre Intention, am Theaterprojekt teilzunehmen, sie möchte Kontakt zu Deutschen knüpfen. Besseres Deutsch zu lernen, neue Freundinnen zu finden und Neues zu entdecken, das möchten die meisten der Frauen, die hier zusammen gekommen sind.
Wie viel Freude ihnen die Darstellung auf der Bühne macht, ist deutlich zu spüren. Mit viel Hingabe entwickeln sie Szene um Szene weiter, erobern sich Wort für Wort der deutschen Sprache. Und zwischendurch in den Pausen plaudern sie mit einander, tauschen Erfahrungen aus, probieren den selbst gebackenen Kuchen, den einige mitgebracht haben. Es wird viel geredet und gelacht, ein buntes und fröhliches Miteinander.
Mittendrin ist Frauke Mees. Die 26-Jährige ist die Assistentin für Anna-Lena Rode. Sie ist die Frau für alles. Sie hilft als Babysitterin aus, weil eine Frau ihren Säugling mitgebracht hat, den aber bei der Probe nicht im Arm halten kann, sie unterstützt mit Worten, die gesucht und gefunden werden müssen und sie kennt sich mit der Technik und ihren Tücken aus.
Gerade wird es spannend, denn die Frauen suchen sich mit Anleitung von Christina Lelli ihre Bühnenkostüme aus. Auch wenn sie in ganz normaler Kleidung auf der Bühne stehen werden, es sind eigens für dieses Stück ausgewählte Kleider. Denn wer in dieses „Kostüm“ schlüpft, der entwickelt ein anderes Empfinden, eine emotionale Beziehung zur Darstellung. Und das ist wichtig, auch, wenn „Aussichten“ ein Stück ist, im dem die Frauen auf der Bühne einen Einblick in ihre ganz persönliche Welt geben. Darauf darf man mit Recht gespannt sein.
Ein Beitrag von Annette Kellin.