Osnabrück/Solingen (epd). Der Islamwissenschaftler Michael Kiefer hält die politische Debatte nach dem islamistischen Messerattentat von Solingen für irreführend. Bei den Forderungen etwa nach schnelleren Abschiebungen und einer Schließung der Grenzen stehe offensichtlich der Wahlkampf im Vordergrund und nicht das Ziel, solche Taten zu verhindern, sagte Kiefer in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). «Das könnte sogar gefährlich werden, wenn darüber versäumt wird, tatsächlich notwendige Maßnahmen zu ergreifen.»
Wichtig seien aus seiner Sicht zwei Dinge: Zum einen müssten die Geflüchteten gerade in Gemeinschaftsunterkünften besser psychosozial betreut werden, um einer Radikalisierung vorzubeugen. Zusätzlich sollten die Bewohner dafür sensibilisiert werden, problematische Entwicklungen den Behörden zu melden, forderte der Professor für «Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft» an der Universität Osnabrück. «Denn eins ist klar. Attentäter fallen nicht plötzlich vom Himmel.» Sie radikalisierten sich in der Regel über Wochen und Monate, was bei den Nachbarn nicht unbemerkt bleibe.
Zum anderen wäre es sinnvoll, die Befugnisse der Polizei zu erweitern, regte Kiefer an, der auch Projekte zur Radikalisierungsprävention begleitet. Sie sollten die sozialen Netzwerke mithilfe von Algorithmen nach Daten durchforsten dürfen, die auf Anschlagspläne hindeuteten. Das sei in den USA bereits üblich. Hierzulande müssten solche Methoden zumindest in Erwägung gezogen werden.
Es führe dagegen überhaupt nicht weiter, die Terrorgefahr mit der Migrationsproblematik zu vermischen, zumal der Migrationsdruck aufgrund der Krisen im Globalen Süden in den kommenden 20 Jahren noch deutlich zunehmen werde, sagte Kiefer. «Immer höhere Zäune und schärfere Kontrollen werden das Problem nicht lösen.» Dass Abschiebungen sich kaum beschleunigen ließen, hätten die vergangenen Monate gezeigt.
Die Terror-Organisation Islamischer Staat (IS) hat Attentäter nach Kiefers Worten in den vergangenen Jahren immer nach demselben Muster rekrutiert. Es seien häufig abgelehnte Asylsuchende und Geflüchtete, die in Deutschland für sich keine Perspektive sähen und sich ausgegrenzt fühlten. Die restriktive Haltung gegenüber Migranten in Politik und Gesellschaft sei für Islamisten ein gefundenes Fressen.
Vorwürfe, in den Islaminstituten in Deutschland und im islamischen Religionsunterricht an Schulen werde unter dem Radar des Staates ein nicht mit den Grundwerten vereinbarer Islam gelehrt, hält der Islamwissenschaftler für «hanebüchen». Er selbst habe zu dem Thema promoviert. Das Gegenteil sei der Fall. Angehende islamische Religionslehrer lernten in den Instituten einen sehr reflektierten Umgang mit ihrer Religion. Sie durchliefen wie jede Lehrkraft ein von staatlichen Stellen kontrolliertes Referendariat. «Der präventive Charakter des islamischen Religionsunterrichts ist gerade mit Blick auf den Nahost-Konflikt nicht zu unterschätzen.»