Verehrte Leserin und verehrter Leser,
wir waren unterwegs auf einer dreitägigen Wandertour durch den Harz. Gleich am ersten Vormittag passierte es: Eine Teilnehmerin unserer Gruppe hatte sich am Fuß verletzt. Nichts Dramatisches. Aber mit dem Rucksack auf dem Rücken würde es für sie heute nicht weitergehen. Wir haben dann ihren Rucksack für den Rest der Etappe übernommen und das Tempo unserer Wanderung reduziert. Jeder übernahm für eine Weile den Rucksack, um ihn dann dem anderen weiterzugeben. Jeder hat ihn ein Stück des Weges getragen, eine Last abgenommen. Am nächsten Tag war die Schwellung am Fuß abgeklungen, sie konnte die Wanderung mit uns ohne Probleme fortsetzen.
„Einer trage des anderen Last…“ Der Vers begegnet mir immer wieder. Als Mahnung zu gegenseitiger Hilfe, als ein Bibelwort bei Konfirmationen und auch bei Trauungen. Vor allem bei meinen Großeltern hatte dieses Wort einen guten Klang. Sie machten im Leben offensichtlich die Erfahrung, wie gut es ist, jemanden an der Seite zu haben, der Lasten abnehmen kann.
In unseren heutigen Ohren klingt das Wort eher nüchtern, gar langweilig. Es klingt, als ob unser Christsein auf das bloße Helfen reduziert wird. Lasten tragen. Wo bleibt da die Freude am Leben, das Ungezwungene? Wo bleiben Freiheit und Liebe? Heutige Trausprüche werden anders gewählt.
Und doch ist es mir ein wichtiges Wort geworden, vielleicht weil es neben der Mahnung auch eine Zuversicht ausspricht.
Denn das Wort aus Gal. 6,2 erinnert uns daran, dass wir nicht alleine leben, sondern in Gemeinschaft, in Beziehungen. So wollte Gott es von Anbeginn. So hat er den Menschen geschaffen und seinem ersten Geschöpf, bereits eine Stütze, einen Mitträger, eine Mitträgerin zur Seite gestellt.
Ich liebe meine Frau. Und ich habe viele Gründe dazu. Ein nicht unerheblicher ist, dass sie mir unheimlich viel an Lasten und Mühen abnimmt. Wie oft haben wir gemeinsam Gottesdienst-Blätter gefaltet, hat sie für mich Besorgungen gemacht und einfach dort geholfen, wo ich Hilfe brauchte. Und meine große Hoffnung ist, dass auch ich ihr in vielen Dingen eine Hilfe war und bleibe. Noch heute kann ich mit geschlossenen Augen Babys wickeln, die Waschmaschine bestücken, den Geschirrspüler ausräumen – selbst das Kochen gelingt mir recht leidlich.
„Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“. Mag das Wort alt, verstaubt, langweilig klingen – mit Verlaub: die Wahrheit darin ist ein großer Schatz.
Denn zu unserer schöpfungsgemäßen Bestimmung gehört ja nicht nur das Mit-Tragen an der Last des anderen, sondern auch das Mit-Getragen-Werden durch andere. Mir scheint, dass dies die wirklich schwere Übung ist. Christsein heißt eben auch das: lernen, etwas abzugeben, mich mit meiner Last jemand anderem zuzumuten.
Deshalb: Traut euch zum Widerspruch, wenn ihr solche Sätze gerade von älteren Menschen hört wie: „Ich will meinen Kindern nicht zur Last fallen.“ Als wenn gerade die so wenig Lasten getragen hätten.
Zum Schluss: Der Vers aus Gal. 6,2 hat noch eine Fortsetzung – und das ist der eigentliche Zuspruch: „…so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Das Gesetz dieser Welt ist, dass jeder seine eigene Last tragen muss. In heutiger Sprache: Schau selbst, wie du klarkommst. Musst halt selbst mit dir fertig werden! Und achte darauf: Trag bloß nicht ständig, aufs Ganze gesehen muss es ein Nullsummenspiel bleiben. Am Ende wird abgerechnet. Und die Bilanz muss stimmen.
Das Gesetz Christi bilanziert nicht und rechnet nicht auf. Vielmehr erinnert es uns daran, dass wir einander tragen können und dürfen und dadurch stärker werden. Wenn ich mit mir selbst fertig werden muss, dann gibt es niemanden, der meine Schuld oder meine Angst mitträgt, niemanden, dem ich meine Traurigkeit klagen kann. Allerdings auch niemanden, mit dem ich Glück und Lebensfreude teile. Ungeteiltes, nur auf die eigenen Lasten konzentriertes Leben ist ein einsames und armseliges Leben.
Das Gesetz Christi ruft uns in die tragende Gemeinschaft von Mann und Frau, von Brüdern und Schwestern, von Eltern und Kindern, von Freunden und Nachbarn, von Einheimischen und Fremden. Wie zutiefst menschlich, wie tragfähig und wie wunderbar dieses Gesetz Christi doch ist! Christus hat es selbst vorgelebt.
Also: Zurück zum Anfang. Wir waren auf einer dreitägigen Wanderung im Harz. Eine Teilnehmerin brauchte Hilfe, wir haben den Tag über ihren Rucksack getragen. Am Ende wollte sie sich groß bei uns bedanken. Doch wir winkten alle ab. Mach keine große Sache draus. Es war uns ein Vergnügen!
Amen.
Pfarrer Stefan Welz