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Eine Woche lang sind die drei Enkelkinder im Alter von zwei bis sieben Jahren bei uns zu Besuch. Mir fällt gegen Abend - wenn es eben geht - die Rolle zu, Geschichten zu erzählen oder vorzulesen. Die Kleinste möchte die Familienfotos an den Wänden sehen - immer wieder. Die Mittlere braucht illustrierte Geschichten. Das große Bibelbuch mit den Bildern von Kees te Kort gehört zu ihren Favoriten. Und die Große lässt sich gerne Märchen vorlesen. Es sind die Geschichten der Brüder Grimm. Nicht alle der Märchen, aber doch recht viele beginnen mit den Worten 'Es war einmal'. Beim Stöbern stoße ich auf die Geschichte 'Der Arme und der Reiche'. Der 'liebe Gott' in schlichten Kleidern sucht nach langer Wanderung eine Übernachtungsmöglichkeit. Im Hause des Reichen wird er abgewiesen. Die armen Leute gegenüber nehmen ihn gerne auf.

 

Der Besucher gewährt drei Wünsche, der Reicher erfährt davon, reitet ihm nach und bekommt auch seinen Willen mit den Worten: 'Drei Wünsche, die du hast, sollen in Erfüllung gehen.' Die ganze Sache geht nicht gut aus für den Reichen Mann und seine Frau. Was mich beeindruckt, ist die Fülle biblischer Motive, die mehr oder weniger deutlich in den Märchen aufleuchten. Die Begegnung Gottes mit Abraham im Hain Mamre (1. Mos.18), die Herbergssuche in Bethlehem (Luk. 2), die Gleichnisse vom reichen Kornbauern (Luk.12) und vom reichen Mann und armen Lazarus (Luk.16), die große Rede vom Weltgericht mit den Worten Jesu: 'Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.' (Matth.25)

 

Längst wird von Christen und Nichtchristen eine Rückbesinnung auf biblische Ereignisse und Weisheiten gefordert. Nur so seien wesentliche Inhalte europäischer Kultur und Kunst zu begreifen und zu deuten. Nur so seien die Schätze des jüdisch-christlichen Gedächtnisses fruchtbar zu machen in der Gegenwart.

 

Das Kindergarten- und Grundschulalter bietet die Chance, sich die Zeit zu nehmen, um Geschichten zu erzählen. Auch als Kontrastprogramm zur Reizüberflutung durch andere Medien. Märchen können über ihren eigenen Reiz hinaus Brücken bauen zu biblischen Einsichten und Wahrheiten, die gar keiner Entmythologisierung bedürfen. Schnell kann es dem 'Es war einmal' eine Gleichzeitigkeit entspringen, nicht nur für die Kinder und Enkel.

 

Bischof Peter Krug