Bremerhaven (epd). Trotz des global heißesten Sommers seit Beginn der Wetteraufzeichnungen ist Forschenden zufolge in der zentralen Arktis im August und im September weniger Meereis als in den Jahren zuvor geschmolzen. «Ungewöhnlich viel Schnee auf den Schollen hat dafür gesorgt, dass sie vor Oberflächenschmelze geschützt waren», berichtete der Meereis-Physiker Marcel Nicolaus am Freitag in einer Online-Videokonferenz von Bord der «Polarstern». Das allerdings sei kein Indiz für einen Wendepunkt in der Klimakrise, hieß es.
Der Forschungseisbrecher ist gerade nach einer mehrmonatigen Expedition in die Arktis auf dem Rückweg in seinen Heimathafen Bremerhaven, wo er am Samstag erwartet wird. Das Schiff des Alfred-Wegener-Institutes (AWI) in Bremerhaven war am 3. August vom norwegischen Tromsø aus zu der Forschungsexpedition namens «ArcWatch-1» aufgebrochen. Ein knapp 100-köpfiges internationales Team aus Besatzung und Wissenschaft hat die Dicke und Eigenschaften des Meereises vermessen, die Strömungen und chemischen Eigenschaften des Ozeans aufgezeichnet und das Leben im und unter dem Eis, im freien Wasser und am Boden der Tiefsee erforscht.
Demnach wurde die überraschend geringere Eisschmelze mit deutlich weniger Schmelzwasser auf der Oberfläche auch und vor allem durch einen ungewöhnlichen Verlauf der Transpolardrift ausgelöst, der Eisbewegungen in dieser Region. Das Eis sei aus Richtung des kanadischen Beckens gekommen und auf dem offenen Ozean entstanden, erläuterte die Expeditionsleiterin und AWI-Direktorin Antje Boetius. Ungewöhnlich stabile Tiefdruckgebiete hätten verknüpft mit einer Zufuhr kalter Polarluft den Sommer über das Eis aus der sibirischen Region zusammengehalten.
«Entsprechend haben wir kaum Eisalgen an der Unterseite des Meereises gefunden», berichtete Boetius. «Das Eis war dieses Jahr wie tot.» Aufgrund der Drift vom offenen Ozean habe besonders die teils meterlange Kiesel-Alge Melosira arctica gefehlt, ein wichtiger Nährstoff-Lieferant für das gesamte Ökosystem. Das habe auch dazu geführt, dass kaum Meereis-Algen in die Tiefsee gesunken seien. «Die Eis-Verschiebung betrifft das Leben als Ganzes in der Arktis», betonte Boetius.
Trotzdem ist die Aktivität der Lebewesen am Boden im Vergleich zum arktischen Meereis-Minimum im Jahr 2012 etwas gestiegen, wie es hieß. Aufnahmen mit der Tiefseekamera hätten im Vergleich zu früheren Daten gezeigt, dass sich die Zusammensetzung der Gemeinschaft verändert habe. Der einstmals glatte Meeresboden sei stark besiedelt gewesen und durchwühlt von Ringel- und Borstenwürmern, kriechenden Seeanemonen und Seegurken. «Es ist erstaunlich, wie schnell das arktische Leben auf Änderungen in der Meereis-Bedeckung reagiert», sagte Boetius.
Es sei faszinierend gewesen zu sehen, wer dort in der Tiefsee lebt, betonte die Forscherin. «Der typische Nordpol-Bewohner ist der Igelwurm, ein seltsames Lebewesen, das mit einer zwei Meter langen Zunge Nahrung einsammelt.» Die Forschenden haben überdies bei der Kartierung des Meeresbodens bisher unbekannte Seeberge entdeckt. Einer dieser erloschenen Vulkane entpuppte sich als Biodiversitäts-Hotspot. Boetius: «Da tobt das Leben.»
Die geringere Eisschmelze ist nach Einschätzung der AWI-Direktorin kein Grund zur Entwarnung. Über Jahrzehnte hinweg gesehen sei das Meereis stark zurückgegangen: «Dahinter steckt natürlich der Klimawandel und der weitere Anstieg von CO2.» Die nächsten drei Wochen soll die «Polarstern» für standardmäßige Wartungs- und Reparaturarbeiten in der Bremerhavener Lloyd Werft verbringen. Ende Oktober bricht das Schiff dann Richtung Antarktis auf.