Hannover (epd). In der Zeit vor Karfreitag und Ostern sind in Deutschland landauf, landab wieder die großen Passionsmusiken von Johann Sebastian Bach (1685-1750) zu hören: die Matthäus-Passion oder die Johannes-Passion. Doch diese Werke seien durchsetzt von antijüdischen Klischees, mahnt der Antisemitismus-Beauftragte des Landes Niedersachsen, Professor Gerhard Wegner. So heiße es dort pauschal, «die Juden» seien schuld am Tod von Jesus - obwohl es die Römer waren, die ihn kreuzigten. Und obwohl Jesus und sein gesamtes Umfeld selbst jüdisch waren. Wegner warnt deshalb davor, diese Werke unreflektiert aufzuführen. In jedem Fall müsse auf die judenfeindlichen Stellen hingewiesen werden, sagt der Theologe.
epd: Herr Professor Wegner, leisten die Passionsmusiken von Bach dem Antisemitismus Vorschub?
Wegner: Die Passionen nehmen den Antisemitismus der damaligen Zeit unkritisch auf und tragen ihn über die scheinbar wunderschöne Musik, die diese Botschaft unterstreicht, bis heute weiter. Wer die Musik kennt, bemerkt die Problematik gar nicht. Dabei ist insbesondere die Suggestion, dass die Juden am Tode Jesu schuld seien, obwohl es doch nur einige von ihnen waren und die ersten Christen auch Juden waren, immer wieder der Grund für Antisemitismus in übelster Form bis hin zu Pogromen und zum Holocaust gewesen. Man kann nicht ausschließen, dass das selbst angesichts erhöhter Aufklärung und allgemeiner Bildung unbewusst weiter wirkt. Aufführungen ohne vorherige Hinweise auf diese Zusammenhänge sind verantwortungslos, so schön die Musik auch klingen mag.
epd: Sehen Sie noch weitere Beispiele für antijüdische Aussagen in diesen Werken?
Wegner: Es ist die Rolle, die die Juden in den Passionen insgesamt spielen. Sie sind die Bösen. Nirgends wird das relativiert.
epd: Die Werke von Bach nehmen ja ziemlich deutlich Bezug auf die neutestamentlichen Berichte in der Bibel. Ist das Neue Testament ein antijüdisches Buch?
Wegner: Natürlich nicht insgesamt und es kommt immer darauf an, wie es gedeutet wird. Die Texte des Paulus, insbesondere der Römerbrief, sind völlig frei von Judenhass. Aber es gibt Stellen, die nicht zu verantworten sind. Besonders drastisch ist eine Stelle im Johannes-Evangelium, Kapitel 8, Vers 44: «Ihr habt den Teufel zum Vater.» Man fragt sich, wie so etwas überhaupt in die Bibel hineinkam und auch, warum es weiter tradiert wurde. Weg interpretieren kann man es nicht.
epd: Haben Sie eine Erklärung dafür, wie so etwas in die Bibel kommen konnte?
Wegner: Solche Sätze stammen meist aus der Zeit des Konkurrenzkampfes der wenigen ersten Christen gegen eine jüdische Übermacht, von der sie sich abgrenzen mussten, um sich zu behaupten. Die Frage bleibt allerdings, warum sie nicht später im Zuge der Kanonisierung der Texte entfernt wurden.
epd: In der Passionsgeschichte gilt Judas als der Jünger, der Jesus verrät. Die Figur des Judas steht seither für den Verräter schlechthin. Er trägt den Bezug zum jüdischen Volk schon in seinem Namen. Kann man die Geschichte von Jesus überhaupt erzählen, ohne antijüdisch zu sein?
Wegner: Das ist sicherlich möglich. Aber man muss das schon sehr bewusst entsprechend gestalten. Wie es geht, haben die Oberammergauer Passionsspiele gezeigt. Sie haben den herkömmlichen Text drastisch überarbeitet, so dass am Ende selbst der Zentralrat der Juden keinen Anstoß mehr nehmen konnte. In diese Richtung sollte es überall gehen, bevor etwas aufgeführt wird.
epd: Kann man Werke wie die Passionsmusiken von Bach nach dem Holocaust noch guten Gewissens aufführen?
Wegner: Nicht mit einem guten Gewissen. Nur so, dass um die Aufführung herum auf den enthaltenen Antisemitismus hingewiesen wird.
Und besser noch so, dass sich die Akteure - Chöre, Gemeinden, Sänger, Musiker - zugleich gegen Antisemitismus engagieren. Das könnte - gerade anlässlich von 80 Jahre der Befreiung von Bergen-Belsen und Buchenwald und des Endes des Krieges in diesen Tagen - in der Aufführung von musikalischen Werken bestehen, die den Holocaust zum Thema haben. Mir ist nicht bekannt, dass so etwas in der Kirchenmusik geschieht.
epd: Wie soll man heute mit den antijüdischen Passagen in solchen musikalischen Werken umgehen?
Wegner: Man kann damit gar nicht «umgehen». Diese Passagen gehören eigentlich nicht gesungen. Vielleicht sollte man dann eine Pause machen. Oder die Musik an dieser Stelle verfremden. Besser wäre es sicherlich noch, man würde die Passionen in Solidarität mit Jüdinnen und Juden, die gerade jetzt mehr bedrängt sind denn je, zumindest eine Zeitlang nicht aufführen.