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Wie Tönnies, Westfleisch und Co mit Arbeitern aus Billiglohnländern groß wurden

Von Martina Schwager (epd)

Mit Hilfe von Subunternehmen und Vertragsarbeitern aus Osteuropa konnten die großen Fleischunternehmen ihre Lohnkosten extrem senken. Das ging oft auf Kosten der Arbeitsbedingungen. Doch bei einzelnen Firmen in der Branche setzt ein Umdenken ein.

Oldenburg/Göttingen (epd). Die Fleischindustrie steht am Pranger, weil sie Arbeiter aus Osteuropa schlecht behandelt. Was Menschenrechtler seit Jahren bemängeln, führt im Licht der Corona-Krise zu Konsequenzen: Die Bundesregierung verbietet Werkverträge in der Fleischindustrie, die als Wurzel allen Übels gelten. Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen? Und wie genau sieht es in der Branche aktuell aus, in der rund 100.000 Menschen täglich Schweine, Rinder und Geflügel töten, schlachten und zerlegen sowie zu Grillkotelett und Wurst weiterverarbeiten?
   
Der Fleischmarkt in Deutschland ist seit mehr als 20 Jahren einem Konzentrationsprozess unterworfen. Die vier größten Firmen Tönnies, Westfleisch, Vion und Danish Crown haben mittlerweile einen Anteil von fast zwei Dritteln (64 Prozent). Den Rest teilen sich mittelständische Unternehmen und noch etwa 1.000 handwerklich arbeitende Metzger mit nur wenigen Angestellten, die meist weniger als zehn Schweine pro Woche schlachten, sagt Josef Efken vom Thünen-Institut für Marktanalyse in Braunschweig. Viele Kleinstunternehmer hätten aufgegeben, nicht weil ihr Betrieb nicht mehr rentabel gewesen wäre, sondern weil sie keinen Nachfolger gefunden hätten.
   
Unangefochtener Marktführer ist und bleibt Tönnies - mit 30 Prozent hat das Unternehmen einen genauso hohen Marktanteil wie Westfleisch und Vion zusammen. Tönnies ist zugleich die Firma, die das Modell der industriellen Schlachtung und Verarbeitung aus einer Hand entwickelt und perfektioniert hat, sagt Professor Achim Spiller, Fleischmarkt-Experte an der Universität Göttingen. «Da geht vorne das lebendige Schwein rein, und hinten kommt die fertig verpackte Wurst raus.» Tönnies mit Hauptsitz im ostwestfälischen Rheda-Wiedenbrück sei mit Discountern wie Aldi und Lidl groß geworden und beliefere sie mittlerweile international.
   
Das funktioniert auch deshalb so erfolgreich, weil Tönnies und im Gefolge auch die anderen großen Firmen die Lohnkosten durch das Anwerben von Arbeitern aus Billiglohnländern und mit Hilfe von Subunternehmen extrem senken konnten. Für Löhne gehen weniger als zehn Prozent der Ausgaben drauf, sagt Efken. Mit 70 Prozent schlägt dagegen der Einkauf der Tiere zu Buche. Weil aber die Gewinnmargen niedrig seien, werde auf allen Seiten um jeden Cent gerungen.
   
Durch das Konstrukt der Ketten-Werkverträge mit mehreren Subunternehmern, die ihrerseits die Rumänen, Bulgaren oder Polen als Solo-Selbstständige verpflichten, fühlen sich die Stammfirmen für die Arbeiter nicht verantwortlich. Die Subunternehmer haben es hingegen leicht, bei Löhnen und Arbeitszeiten zu tricksen und die Arbeiter in heruntergekommene Massenunterkünfte zu stecken.
   
Nach Angaben der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) sind etwa bei Tönnies und Vion vier von fünf Beschäftigten Werkvertragsarbeiter. Sie schätzt ihre Gesamtzahl auf 30.000. Ein bundesweit geltender Tarifvertrag existiert nicht. Es gibt zwar einzelne Haustarifverträge. Für Ungelernte liegt demnach der Einstiegslohn in den Schlachthöfen bei knapp unter 10 Euro, für Fachkräfte bei rund 15 Euro pro Stunde. Diese Verträge gelten jedoch nur für die Stammbelegschaft.
   
Dass es auch anders geht, zeigt die Goldschmaus Gruppe mit Sitz in Oldenburg und Garrel bei Cloppenburg. Sie liegt mit 3,2 Prozent auf Rang sechs bei den Marktanteilen. 2017 bot die Erzeugergemeinschaft, die eng mit den Bauern der Umgebung zusammenarbeitet, allen 600 damaligen Werkvertragsarbeitern an, sie zu übernehmen. Der weitaus größte Teil nahm das Angebot an. Weitere kamen aus dem Ausland hinzu. Goldschmaus hat nach eigenen Angaben eine Lohnstaffel, die etwas über dem Mindestlohn von 9,35 Euro beginnt.
   
Heute sind alle rund 1.500 Beschäftigten direkt beim Unternehmen angestellt. «Wir bilden selbst aus und wollen die Mitarbeiter an uns binden», sagt Sprecher Gerald Otto. Dafür hat Goldschmaus seine Personalabteilung aufgestockt, um die überwiegend aus Rumänien stammenden Beschäftigten etwa bei der Wohnungssuche beraten zu können. Zudem baut die Firma eigene Werkswohnungen. Ihre Fleischprodukte verkauft sie zu marktüblichen Preisen unter dem «Goldschmaus-Label» an Discounter und andere Einzelhändler. Die Chefs setzen darauf, dass dem Kunden Regionalität und Transparenz mittlerweile wichtiger sind als nur der Preis.
   
Genau dieses veränderte Kundenverhalten könnte für die übrige Branche zum Problem werden, sagt Professor Spiller. Sie habe sich zu lange auf das Niedrigpreismodell konzentriert und nicht genügend beachtet, dass sich das Bewusstsein innerhalb der Gesellschaft gewandelt habe. Auch er hält das Subunternehmertum für nicht länger tragbar, weil es nicht zu kontrollieren sei. Die Menschen legten heutzutage aber Wert auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen – ebenso wie auf Klimaschutz, Qualität und Tierwohl.
   
Spiller glaubt, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung, mindestens ein Drittel, tatsächlich bereit ist, dafür mehr zu zahlen und stattdessen weniger Fleisch zu essen: «Die Branche muss sich auf weniger und besser einstellen.»