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Es ist eine kleine Sensation: Zum ersten Mal werden in Oldenburg Bilder gezeigt, die der renommierte Dötlinger Landschaftsmaler Georg Müller vom Siel in seiner zweiten Lebenshälfte produzierte. Bilder, die ab 1909 in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen entstanden. Der Titel der Ausstellung im Oldenburger Prinzenpalais lautet: „Der andere Müller vom Siel“. Unter dem Motto „Der ganze Müller vom Siel“ trafen sich am Samstag, 5. Juli, Historiker, Experten aus Kunst und Medizin sowie rund 50 Interessierte im Oldenburger Schlosssaal zu einem Symposium über den Künstler und über künstlerisches Schaffen in der Psychiatrie.

„Man kann es sich kaum vorstellen: Noch vor wenigen Jahren wurde verbreitet, Georg Müller vom Siel hätte die letzten 30 Jahre seines Lebens vor sich hindämmernd in Wehnen verbracht. Dabei hat er die ganze Zeit gemalt – nur ging es ihm nicht mehr um Landschaften, sondern um eine Sinnsuche“, so Pastorin Brigitte Gläser, Organisatorin des Symposiums und Leiterin der Akademie der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg. „Ich freue mich sehr, dass heute Experten verschiedener Fachrichtungen zusammengekommen sind, um den Künstler Georg Müller vom Siel zu würdigen, aber auch, um sich über Kreativität von Menschen in der Psychiatrie auszutauschen“, sagte Gläser.

Mit der Veranstaltungsreihe „Ausgeschlossen“, zu der auch das Symposium gehört, wolle sich die Evangelische Akademie in die aktuelle Inklusionsdebatte einmischen. „Wir untersuchen, wie Menschen in der Psychiatrie ausgegrenzt, wie ihre Kreativität ignoriert und sie im wahrsten Sinne des Wortes totgeschwiegen wurden – teilweise noch heute“, betonte Gläser. „Wir zeigen aber auch, wie Inklusion ohne lange Reden funktioniert, etwa bei der integrativen Gruppe „Irrlichter“, deren Fotoarbeiten noch bis zum 25. Juli im Bürgerbüro Mitte zu sehen sind.“

Georg Müller vom Siel war Ende des 19. Jahrhunderts ein angesehener Maler, bis er mit 43 Jahren in die Nervenheilanstalt eingewiesen wurde, wo er 1939 starb. „Sein sogenanntes zweites Lebenswerk war bisher kein Objekt der künstlerischen Wahrnehmung, aber diese Ausstellung zeigt, dass man sein Schaffen nicht einfach in gesund und krank unterteilen kann“, sagte Matthias Bormuth, Professor des Instituts für Philosophie der Universität Oldenburg.

„Die Ausstellung ist auch ein Auftakt dazu, neue Fragen zu stellen“, erklärte Rainer Stamm, Direktor des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg. Manche Zeichnungen, die Müller vom Siel in Wehnen anfertigte, muteten sehr modern an: „Man hätte solche Bilder eher in Berliner Galerien der 1980er oder 1990er Jahre erwartet“, so Stamm. „Viele dieser Werke wirken radikal und neu“, bestätigte Thomas Röske, Leiter der Sammlung Prinzhorn aus Heidelberg, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Psychiatrie entstandene Kunst zeigt. „Wir sind erst am Anfang der Interpretation, und es ist spannend, diese Bilder jetzt interdisziplinär zu betrachten, also genauso aus kunsthistorischer wie aus medizinhistorischer, philosophischer und psychoanalytischer Sicht.“

„Der Künstler hatte etwas zu sagen“, betonte Axel von Besser, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. „Seine Bilder sind sehr ausdrucksstark. Für einen Therapeuten von heute wären sie aufgrund ihrer Interpretationsmöglichkeiten wahre Leckerbissen.“ 1909, als Müller vom Siel in die geschlossene Anstalt eingewiesen wurde, habe man in der Medizin jedoch gerade damit begonnen, zwischen lebenswertem und unwertem Leben zu unterscheiden. Die Psychiatrie sei so zur Selektionseinrichtung und zur Bedrohung für ihre Patientinnen und Patienten geworden, erklärte der Medizinhistoriker Ingo Harms. „Müller vom Siel war in Wehnen ein Chronist der Zeit von kurz vor dem Ersten bis kurz vor dem Zweiten Weltkrieg“, so Harms. „Er hat die Strömungen jener Jahre wiedergegeben – eine geradezu seismografische Arbeit.“

Das Symposium „Der ganze Müller vom Siel“ der Akademie der Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg fand in Kooperation mit dem Landesmuseum für Kunst und Kultur, dem Gedenkkreis Wehnen und der Karl-Jaspers-Klinik statt.

Die Ausstellung „Der andere Müller vom Siel“ ist noch bis zum 24. August 2014 im Prinzenpalais Oldenburg zu sehen.

Das Symposium „Der ganze Müller vom Siel“ und die Ausstellung „Schublade auf – Stempel drauf“ der Fotogruppe „Irrlichter“ gehören zur Veranstaltungsreihe „Ausgeschlossen“ der Akademie der Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg. Weitere Infos gibt es unter: www.akademie-oldenburg.de und unter der Rufnummer 0441 / 7701 431

Die Ausstellung „Schublade auf - Stempel drauf“ ist bis zum 25. Juli 2014 im Bürgerbüro Oldenburg Mitte, Pferdemarkt 14, zu sehen. Öffnungszeiten: montags bis donnerstags von 8 bis 15.30 Uhr und freitags von 9 bis 12 Uhr. Veranstalter ist die Akademie der Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg in Kooperation mit der Fachstelle Inklusion der Stadt Oldenburg.

 

Ein Beitrag von Antje Wilken.

Expertinnen und Experten verschiedener Fachrichtungen kamen bei der Podiumsdiskussion des Symposiums „Der ganze Müller vom Siel“ im Oldenburger Schlosssaal ins Gespräch. Mit dabei waren (von li.): der Medizinhistoriker Ingo Harms von der Universität Oldenburg, Brigitte Gläser, Leiterin der Akademie der Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg, Hans Schöner vom Förderverein Elfriede Lohse-Wächtler, Christiane Först, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie von der Karl-Jaspers-Klinik, Thomas Röske, Leiter der Sammlung Prinzhorn aus Heidelberg, der Moderator der Veranstaltung, Pastor Stefan Buss, Rainer Stamm, Direktor des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Axel von Besser, Facharzt für Psychiatrie (hinten), Matthias Bormuth, Professor am Institut für Philosophie der Universität Oldenburg, sowie Maike Rotzoll, Medizinhistorikerin am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin aus Heidelberg. Fotos: Akademie/Antje Wilken
Axel von Besser, Facharzt für Psychiatrie (l.), und Thomas Röske, Leiter der Sammlung Prinzhorn, diskutierten mit den Teilnehmern des Symposiums über die Bilder von Georg Müller vom Siel.
Rainer Stamm, Direktor des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg (r.), führte die Symposiumsteilnehmer, darunter Matthias Bormuth, Professor am Institut für Philosophie der Universität Oldenburg, und die Medizinhistorikerin Maike Rotzoll, durch die Ausstellung „Der andere Müller vom Siel“.
Die Arbeiten des Künstlers Georg Müller vom Siel, die in der Nervenheilanstalt Wehnen entstanden, wurden lange Zeit ignoriert und galten als künstlerisch wertlos. Jetzt sind sie im Prinzenpalais zu sehen.