Vor rund zwei Jahren, noch in der 9. Klasse, erfuhren die 35 Schülerinnen und Schüler der Freien Waldorfschule Oldenburg im Geschichtsunterricht von Lehrer Christian Hauck-Hahmann erstmals mehr über das Thema Euthanasie. In der Folge konzentrierte sich die Klasse auf die Menschen, die zur Zeit des Nationalsozialismus ganz in der Nähe, nämlich in der „Heil- und Pflegeanstalt Kloster Blankenburg“, als Kranke und Pflegebedürftige getötet wurden. „Unsere Klasse beschloss, die Namen dieser Toten herauszufinden und wo sie begraben wurden, um ihnen ihre Würde wiederzugeben“, so die Schülerin Lotte Gott.
Stellvertretend für ihre Klasse stellten sie und ihr Mitschüler Rasmus Helwig in einem Vortrag in der Oldenburger St. Lamberti-Kirche am Mittwoch, 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, die bisherigen Ergebnisse und den Zwischenstand des Projekts vor.
„Dies ist eine wichtige Veranstaltung“, begrüßte Stefan Buss, Pfarrer im Ruhestand, die Zuhörenden in der St. Lamberti-Kirche. „Wir sehen hier direkt in eine todbringende Vergangenheit, in der Menschen dadurch getötet wurden, dass man sie unversorgt und schließlich verhungern ließ.“
Die Forschungen der Schülerinnen und Schüler wurden inspiriert vom Theaterstück „Blankenburg“ am Oldenburgischen Staatstheater und begleitet vom Medizinhistoriker Dr. Ingo Harms. Es gelang, Namen und Schicksale von 95 der insgesamt wohl 103 getöteten Patientinnen und Patienten des Gertrudenheims zu identifizieren.
Das Gertrudenheim, eine im 19. Jahrhundert gegründete Einrichtung für geistig behinderte Menschen, war von 1937 bis 1941 ins Kloster Blankenburg verlegt worden. „Wir haben Namen von Patienten in Kirchenbüchern gefunden sowie im Staats- und Stadtarchiv recherchiert“, erzählte Lotte Gott. „Es war ein beklemmendes Gefühl, die Namen und Sterbedaten zu finden und die Beschreibungen in den Krankenakten zu lesen, die wir angefordert hatten.“ So wurde einem der Patienten, der in Blankenburg starb, im Sprachgebrauch der Zeit eine „schwere Idiotie“ diagnostiziert.
„Den Verwandten wurde weisgemacht, ihren Angehörigen ginge es im Gertrudenheim gut“, erklärte Rasmus Helwig und zeigte alte Bilder eines idyllischen Geländes, das mehr nach Urlaub als nach Anstalt aussieht. So schrieb die Mutter eines Patienten nach der Todesnachricht, ihr Kind wäre jetzt „erlöst“. Dabei mussten die Insassen des Gertrudenheims, viele davon Kinder und Jugendliche, einerseits hungern, andererseits in der Landwirtschaft arbeiten, fanden die Schülerinnen und Schüler heraus.
Bestattet wurden die Toten – teils anonym – auf einem Friedhof auf dem Gelände des Klosters Blankenburg. 1941 wurde über die Fläche des Friedhofs ein Kesselhaus gebaut. „Im Frühling 2015 waren wir im Rahmen einer Führung zum ersten Mal auf dem Klostergelände“, so Lotte Gott. „Ich hatte mir vorgestellt, dass man es dem Ort ansieht, was da Schreckliches passiert ist, aber das war nicht so. Es sah wirklich so idyllisch aus wie auf den alten Bildern. Erst als wir auf das Kesselhaus zugingen, haben wir gemerkt, dass wir ja über den ehemaligen Friedhof gelaufen sind, ohne es zu merken.“
Der Wunsch der Waldorf-Klasse, an der Stelle eine Infotafel anzubringen, wird sich wohl nicht erfüllen. Die Besitzer seien nicht kooperativ, sagten Gott und Helwig dazu in ihrem Vortrag.
Ein neu angelegtes Gräberfeld auf dem Neuen Friedhof hinter der Auferstehungskirche ist dagegen in Planung. Dorthin waren 52 Getötete aus Blankenburg umgebettet worden. Angedacht sind Grabplatten mit den Namen und eine von Schülerinnen und Schülern gestaltete Infotafel, außerdem wurden Ideen für die Gestaltung des Gräberfelds entwickelt. Dazu arbeiten die Schülerinnen und Schüler mit der Friedhofsverwaltung und dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge zusammen.
„Es ist für uns wichtig, dass Jugendliche sich bei diesem Thema weiter so dahinterklemmen“, sagte Elke Harms-Kranich, Vorsitzende des Gedenkkreises Wehnen e.V., nach dem Vortrag. Der Gedenkkreis wurde von Angehörigen von Patientinnen und Patienten gegründet, die zur Zeit des Nationalsozialismus in der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Wehnen bei Oldenburg ermordet wurden. Harms-Kranich bedankte sich bei den Schülerinnen und Schülern für ihre „bohrenden Fragen, die viel aufgedeckt haben“.
Vor dem Vortrag hatten die evangelische Citykirchenarbeit der Stadt Oldenburg und das katholische Forum St. Peter in einem ökumenischen Gottesdienst gemeinsam der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. In diesem Jahr standen Menschen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, die in Blankenburg als Kranke und Pflegebedürftige getötet wurden.
Ein Beitrag von Antje Wilken.