Kriegsspuren auf der Suche nach Friedenszeichen: Bischof Jan Janssen gestaltete die Gastpredigt zur Friedens-Dekade am Sonntag in der Dresdner Frauenkirche mit dem erschütternden Briefwechsel einer jungen Gemeindehelferin und eines Pastors, der als Soldat im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront stirbt.
Noch vor dem Ende erhebt sich Sprecher Stephan Bischof und verlässt den Platz am Altarraum. Den Brief Jochens hat er noch zu Ende gelesen. Geschrieben hatte der 27 Jahre alte Pastor ihn am 14. August 1941 als Wehrmachtssoldat an der Ostfront. Das Schrecklichste bleibt darin nur angedeutet: Von einem „bösen Tag“ ist die Rede. „Gut, dass du nicht alles siehst und weißt, es ist manchmal nicht schön." Es ist der letzte Brief an seine vier Jahre jüngere Verlobte Rosi aus Celle, die in Berlin-Dahlem zur Gemeindehelferin ausgebildet wird.
Sprecherin Tina Kleefeldt liest deren Briefe nun im Angesicht eines leeren Tisches. Rosi schreibt von Sehnsucht nach einem gemeinsamen Leben mit Jochen, wie sie von einer Zukunft im Frieden träumt. Es ist der ergreifendste Moment für die Besucherinnen und Besucher dieses Gottesdienstes in der Dresdner Frauenkirche. Hier vernehmen sie die Stimme einer jungen Frau, die die schreckliche Nachricht vom Tod ihres Verlobten auf dem Schlachtfeld in Russland nur noch nicht erreicht hat.
Bischof Jan Janssen hat in seiner Gastpredigt während der Friedens-Dekade Ungewöhnliches gewagt: Eingebaut hat er Auszüge aus dem Briefwechsel von jungen Menschen während des Zweiten Weltkrieges. Jener Pastor ist sein Uronkel. Ein sehr persönliches Zeugnis, mit dem die Zuhörenden Menschen jener Zeit und ihrer Denkweise sehr nahe kommen. „Es sind Kriegsspuren auf der Suche nach Friedenszeichen“, sagt Jan Janssen.
Drei Mal haben sich die beiden gesehen, als sie sich verloben. Jochen ist bereits Soldat. Die Zeilen, welche die beiden tauschen, durchzieht ein scharfer Kontrast: Erinnerungen an ihr Zusammensein, Freude an der großen Ruhe der Natur, romantisches Mondlicht und Sternennächte, zugleich jedoch Verdunkelung, Angst vor Fliegerangriffen, Ausharren im Luftschutzbunker. Bange Sorgen um den Anderen und immer wieder gegenseitige Versicherung des Gottvertrauens.
Eine tief verinnerlichte Haltung zeigt sich, die damals normal gewesen ist: Sie reißen sich zusammen, sind zum Dienst bereit. Immer wieder ist die Rede von „Ausharren, Warten, unsere Pflicht tun“. Sacht nur melden sich Zweifel. Beide stellen sich die Frage nach dem großen Warum? Einmal wechselt Rosi ein paar Worte mit einem französischen Kriegsgefangenen, der bei ihnen Holz hackt. „Die Völker sehnen sich nach Frieden“, sagt der. Und: „Es gibt keinen Gott.“ Er hat die Hoffnung aufgegeben, an der die beiden verzweifelt festhalten: dass in allem ein Sinn liegen muss, der sich im tiefen Glauben an Gott erschließt. Protest findet man selten; nur kurz blitzt er auf in einem Satz wie diesem von Rosi: „Das Sinnlose und Widergöttliche des Krieges ist grauenhaft!“
Mehr ist für beide undenkbar. „So nahe uns ihre Geschichte geht, so nüchtern wird sichtbar, was Menschen möglich und unmöglich ist“, sagt Bischof Janssen. „Sie werden zum funktionierenden Rad im Getriebe, zu einer schweigsamen Säule des Systems. War schon der Horizont ihrer Wahrnehmung zu eng – so hat ihre kritische Distanz erst recht zu kurz gegriffen.“
Um ein Haar wären diese Zeugnisse verloren gegangen. Schon hatte Rosi, die Diakonisse, verfügt, die Packen, insgesamt etwa 600 Briefe, nach ihrem Tod zu verbrennen. Dann aber kamen ihr Zweifel. Sie fragte Jan Janssen, ob Menschen seiner Generation noch Interesse an so etwas hätten. Vor zehn Jahren ist sie mit fast 86 Jahren gestorben.
Zusammen mit seiner Schwester hat Jan Janssen die Sütterlinschrift der Briefe entziffert und abgeschrieben. Nun können auch andere, jüngere sie lesen. Menschen, denen solche Kriegserfahrungen völlig fremd sind, weil sie in einem Mitteleuropa leben, in dem Menschen gelernt haben, „über Grenzen, Gräben und Grausamkeit hinweg zusammen zu leben in einem Miteinander, das der nationalen, kulturellen und religiösen Vielfalt Raum gibt“.
Doch in vielen anderen Ländern spielen sich, wenn auch auf ganz andere Weise, heute womöglich ähnlich schlimme menschliche Tragödien ab wie die zwischen Jochen und Rosi. Deshalb mahnt Bischof Janssen: „Nun darf unser Horizont nicht enden an den scheinbar weit weg gerückten Grenzen, wo wir die Konflikte klein reden, wo wir die Kriege, die da vonstattengehen, nicht erkennen, wo bei uns produzierte Waffen Kriegsspuren hinterlassen.“
Ein Beitrag von Tomas Gärtner.