Wie können Menschen gut miteinander leben, ohne es auf Kosten anderer zu tun? Wie gelingt es jungen Menschen, selbstkritisch ihre Identitäten zu bilden und zugleich solidarisch zu bleiben? Antworten und Annäherungen zu diesen Fragen bot die Fachtagung „Was braucht es, einen kritischen Menschen zu bilden?“ zu der die Ev. Akademie am Freitag, 20. Mai, ins Schlaue Haus in Oldenburg eingeladen hatte.
Mit seinem Vortrag „Bildungsziele heute in evangelischer Sicht“ gab Dr. Friedrich Schweitzer, Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Universität Tübingen, Impulse zur anschließenden Diskussion. Ist das Maß aller Bildung tatsächlich das, was der Karriere – und der Wirtschaft – nützt? Bildungsökonomisch erscheine dies konsequent, so Schweitzer, dennoch verneint er, denn: Fragen nach dem Menschenbild, nach religiösen und philosophischen Traditionen blieben für das Bildungsverständnis unverzichtbar. Dabei „entgrenzten“ gerade religiöse Traditionen das Bildungsverständnis. Hier werde Bildung in ein Verhältnis zur Transzendenz – biblisch gesprochen: zu Gott – gesetzt, auf diese Weise verhinderten sie ein häufig auf materielle Ziele verkürztes Bildungsverständnis. Gleichzeitig könne von religiöser Bildung erst gesprochen werden, wenn Menschen in ein reflexives Verhältnis zu religiösen Überlieferungen und Geltungsansprüchen treten könnten, weil sie sich eine gewisse Distanz erarbeitet hätten. Damit erhalte Bildung „auch eine anti-fundamentalistische Wirkung“. Bildung müsse in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft auch interreligiöse Kompetenzen einschließen – und zwar gerade im Blick auf die Arbeitswelt, insbesondere im Pflegebereich, betonte Schweitzer und verwies auf die „Achtung von Scham und religiös begründeter Persönlichkeitsrechte vor allem im Umkreis von Leiden, Sterben und Tod“. Aber auch in vielen anderen Berufsfeldern – vom Finanzsektor bis zur Polizei – werde interreligiöse Bildung immer wichtiger.
In der Schule müssten reine Kenntnisse vermittelt werden, gleichzeitig aber dürfe der Blick auf jedes Kind als Ganzes und auf seine Entwicklung als Persönlichkeit nicht verlorengehen, betonte Jens Aden vom Niedersächsischen Kultusministerium in der anschließenden Diskussion, für die er gemeinsam mit Oberkirchenrat Detlev Mucks-Büker und Dr. Friedrich Schweitzer auf dem Podium saß. Dr. Barbara Moschner, Professorin für Lehr- und Lernforschung an der Uni Oldenburg, moderierte. Bildungseinrichtungen müssten sich daran messen lassen, ob sie alle Kinder und Jugendlichen angesichts ihrer Gaben fördern, so Mucks-Büker, der für ein mehrdimensionales Verständnis von Bildung plädierte: „Hier geht es um eine Förderung des ganzen Menschen.“ Damit Schulen an die Stärken der Kinder anknüpfen könnten, brauchten sie eine bessere materielle und personelle Ausstattung, machte er deutlich und sprach sich gegen den Föderalismus in der Schullandschaft aus: „Wir brauchen Ziele, die länderübergreifend und längerfristig als nur eine Legislaturperiode angesteuert werden.“
Sind wir eine Spaßgesellschaft? Diese Frage stellte Barbara Moschner in den Raum. Die Studenten heute sagten, ihre Schüler sollten Spaß am Unterricht haben, erzählte sie. „Ist das ein Problem der Studierenden oder eines unserer Gesellschaft, in der das Solidaritätsprinzip und die Verantwortung für die Allgemeinheit nicht mehr so wichtig sind?“ Ihre These: Schüler werden nicht mehr zu kritischen Menschen, sondern sollen lernen, in dieser Gesellschaft von Individuen zurechtzukommen. „Spaß haben“ sei für die heutigen Jugendlichen eine Metapher für „Sich wohlfühlen“, entgegnete Schweitzer. Dabei setzten sie sich durchaus mit inhaltlichen Themen auseinander, „auch das macht ihnen Spaß“. Die Phrase „Spaß haben“ beinhalte auch Angstfreiheit, Zufriedenheit, keine Überforderung bis zur Beschämung zu erleben, ergänzte Mucks-Büker. Er plädierte für eine „gekonnte Diskurskultur“, die zu erlernen schon früh anfangen müsse. Sie erlebe an den Schulen eine immer stärkere Infantilisierung, so Moschner. „Kinder und Jugendliche werden an den Schulen nicht ernst genommen – damit unterfordern wir sie“, warnte sie. Man müsse sich über die Schule hinaus fragen, ob und wie die Gesellschaft Kinder ernst nehme, unterstrich Mucks-Büker und schlug den Bogen zur Jugendarbeit der Kirche. Auch hier falle es oft schwer, die Expertise der Jugendlichen anzuerkennen, sich auf ihre Perspektive einzulassen. Dabei sei es spannend zu sehen, wie sehr sie sich für ihre Belange einzusetzen bereit seien und wie stolz sie seien, wenn sie die Erfahrung machten, zur entscheidenden Entwicklung beigetragen zu haben.
Kann Schule kritische Menschen hervorbringen? „Oft trauen sich Schüler nicht, kritisch zu sein, weil sie davon ausgehen, dass sie für eine gute Note die Meinung des Lehrer vertreten sollten“, so eine Meinung aus dem Publikum. „Wer kritisch ist, der eckt auch an. Und wir leben in einer Gesellschaft, in der jeder gefallen will“, gab eine weitere Teilnehmerin zu bedenken. Häufig seien die Menschen nur noch kritisch, wenn es ihr eigenes Wohlgefühl betreffe, lautete eine weitere Anmerkung. Straßenbauprojekte, Neubauten ja – aber nicht vor der eigenen Haustür. Dies sei mit dem evangelischen Gedanken eigentlich nicht vereinbar, so Schweitzer. „Vor dem evangelischen Hintergrund müsste der Kritikbegriff gemeinwohlorientiert sein. Denn Kritik ist mehr, als nur für die eigenen Interessen einzutreten.“
Anke Brockmeyer