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Durch Ochsenhandel und Milchwirtschaft reich geworden lebte in der Wesermarsch in der Frühen Neuzeit eine selbstbewusste Elite von Bauern in relativer Freiheit. Diese sogenannten Hausleute investierten in ihre dörflichen Kirchen. Prachtvolle Gräber und auch im täglichen Leben machten sie ihre gehobene Position über eine reiche Sachkultur deutlich. Reich verzierte Schränke, prunkvolle Rundtruhen, besondere Alltagsgegenstände oder Kleider aus wertvollen Stoffen gehörten dazu.

 

Eine aktuelle Ausstellung in der zentral gelegenen Hengsthalle in Rodenkirchen in unmittelbarer Nachbarschaft zur St.-Matthäus-Kirche befasst sich mit diesem kulturhistorisch sehr interessanten Wissenschaftsfeld. Die Ausstellung „Bauern – Kirchen – Friedhöfe“ geht vom 26. Mai bis 4. August und gibt einen guten Einblick in die bäuerliche Kultur der Wesermarsch vom 17. Jahrhundert bis 19. Jahrhundert. Sie ist exakt dieselbe Ausstellung, die auch schon in Cloppenburg im dortigen Museumsdorf auf großes Interesse stieß und ist ein gemeinsames Projekt des Museumsdorfs Cloppenburg – Niedersächsisches Freilichtmuseum und des Seminars für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

 

Kunstmoderator Pastor i.R. Frank Klimmeck setzte sich dafür ein, dass diese viel beachtete Ausstellung nach Rodenkirchen kam. Auch die Nähe zur fußläufig gelegenen St.-Matthäus-Kirche ist ideal, denn dort wurden viele Objekte im Kirchenraum und Gräber im Außenbereich von den dort ansässigen Bauern finanziert. In einer Feierstunde mit Andacht wurde die Ausstellung am Sonntag, 26. Mai, in der St.-Matthäus-Kirche im Beisein des Generalsekretärs der Stiftung Niedersachsen Joachim Werren, des Präsidenten der Oldenburgischen Landschaft, Thomas Kossendey, des leitenden Direktors des Museumsdorfes Cloppenburg, Prof. Dr. Uwe Meiners, und der Projektleiterin Professorin Dr. Christine Aka eröffnet.

 

Es ist besonderer Teil der Geschichte und Kultur der Wesermarsch, die zum Thema Sachkultur und bäuerliches Bewusstsein von der Kulturanthropologin Professorin Dr. Christine Aka aus Münster erarbeitet wurde. Bereits früh entwickelten die wohlhabenden Bauern ein großes Selbstbewusstsein und begannen im 17. Jahrhundert, sich entsprechend öffentlich darzustellen: Nicht nur durch kostbare Möbel und Geschirr in den Privathäusern, sondern auch durch prachtvolle Kircheneinrichtungen und Grabdenkmäler.

 

Im untersuchten Zeitraum hatten die Bauern der Wesermarsch die wesentlichen Ämter inne. Sie kontrollierten die Deiche, Schulen und Kirchen, agierten in verwandtschaftlichen Netzwerken und trieben regen Handel mit den Nachbarregionen bis nach England, trotz der Abgelegenheit der Orte auf der Halbinsel Butjadingen. Vom Dreißigjährigen Krieg verschont trieben die Bauern regen Handel und belieferten die Regionen mit Milch, Milchprodukten und Fleisch bzw. Lebendvieh. Bis heute zeigt das Nebeneinander von niederdeutschen Hallenhäusern, großen Gulfscheunen, sogenannten „Oldenburger Villen“ des 19. Jahrhunderts und modernen Boxenlaufställen die verschiedenen Traditionen und Konjunkturphasen und die bewahrte bäuerliche Lebensweise.

 

Im 17. Jahrhundert konzentrierte sich die Statusinvestition auf den kirchlichen Raum, der von den Bauern umgestaltet wurde. Es wurde in das ewige Gedenken investiert, in Stiftungen für die Kirche wie Kirchenbänke, Epitaphen, Priecheln oder Gräber. Die Stiftungen kennzeichneten die Bauern in der Art des Adels mit familienbezogenen Hausmarken. So finanzierten sie Teile der Kircheneinrichtungen und stellten ihr Selbstbewusstsein damit öffentlich zur Schau. In der Wesermarsch gehen Familiengräber bis 1559 zurück. Die wuchtigen und teuren Grabsteine wurden aus dem Oberweserraum importiert und in Bremen bearbeitet. Die Gräber erzählen von Menschen und ihren Schicksalen, machen Beziehungen deutlich und sind ein Spiegelbild für den Anspruch der bäuerlichen Elite, so zu repräsentieren, wie es in den anderen Regionen dem Adel vorbehalten war.

 

Die Lebensweise der Vollbauern, sogenannter Hausleute, in der Wesermarsch unterschied sich in vielerlei Hinsicht von den Stereotypen des als „typisch bäuerlich“ geltenden Handelns. Bereits im 17. Jahrhundert verstanden es die Bauern, profitorientiert zu denken und sich am Marktgeschehen erfolgreich zu behaupten. Es wurde Handel mit Ressourcen aller Art getrieben und es herrschte ein ausgeprägtes Kreditwesen. Eher als in anderen Regionen, aber vergleichbar mit anderen Marschenregionen, hatte hier eine agrarwirtschaftliche Marktintegration stattgefunden und sich ein kapitalorientierter Handel herausgebildet, der auch den Handel mit Land oder die Verpachtung von Höfen beinhaltete.

 

Die beginnende Industrialisierung und die damit einhergehende verstärkte Lebensmittelnachfrage in England bescherten den Bauern der Wesermarsch im 19. Jahrhundert volle Geldbeutel. Erworbenes Kapital wurde in Luxusgüter investiert, der Import von Statusgütern aus fernen Regionen war über die Seefahrt möglich. Es sind also keine spezifischen regionalen Produkte, sondern Innovationswellen von importierten Gütern, die die regionale Prägung dieser Region für die wohlhabende Elite ausmachten.

 

Aber auch im 17. Jahrhundert machte der Erwerb von Gegenständen des kleineren Luxus wie hochmodische Uhren, ein freistehendes Himmelbett, bestimmte Kleider und Accessoires, Tischgerätschaften und Wertgegenstände aus Metall oder Fayence den Unterschied zum einfachen Volk aus.

 

Brautschatzmöbel als öffentlich zur Schau gestellte Heiratsallinanzobjekte zwischen adäquaten Familien zierten die Häuser. Dabei waren die Bauern mit den anderen ländlichen Eliten eng verwoben, eine Abgrenzung zum Klerus oder der kleinadeligen gehobenen Beamtenschaft gab es nicht.

 

Im 18. Jahrhundert gab es repräsentative Neuerungen und man ließ große Grabkeller bauen, Nachbarn im Leben wurden auch Nachbarn im Tode. Auf dem Friedhof in Rodenkirchen ließ die alteingesessene Familie Töllner im Jahr 2012 ihren Grabkeller aus dem 17. Jahrhundert zu einem Kolumbarium umbauen, in dem heute Urnenbegräbnisse stattfinden.

 

Der Ausstellung liegt eine zweieinhalbjährige Forschung zu Grunde und sie setzt Schwerpunkte im Kirchdorf Strückhausen und in Langwarden mit der dortigen St.-Laurentius-Kirche. Aber es werden auch etliche Beispiele von prächtigen Alltagsgegenständen und teuren Kirchenausstattungen aus Rodenkirchen, Berne und der restlichen Wesermarsch aufgezeigt. An einzelnen Personen und alteingesessenen Familie wie Lübben, Tantzen oder Schwarting wurde das bäuerliche Selbstverständnis exemplarisch dargestellt.

 

Archivalien, Testamente, Inventarlisten, Epitaphen, Kirchenbänke, Grabsteine und Privatbesitz wurden von der Projektleiterin und Kuratorin Professorin Dr. Christine Aka gesichtet, analysiert und bewertet. Sie schrieb dazu schließlich ein 480 Seiten starkes Buch mit zahlreichen Informationen, Quellen und Bildern, welches nun als Ausstellungskatalog dient und ein umfangreiches Hintergrundwissen vermittelt. „Ich habe zum Beispiel untersucht, ab wann Kaffee und Tee in der Wesermarsch getrunken wurden. Es ist ein Hinweis auf den Reichtum der Gesellschaft und verdeutlicht die Handelsbeziehungen“, erklärt Professorin Dr. Aka.
 
Projektförderer sind die Stiftung Niedersachsen, Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur, die LzO Stiftung Kunst und Kultur.

 

Zur Realisierung der Rodenkricher Ausstellung trugen die Oldenburgische Landschaft und die Raiffeisenbanken Wesermarsch bei. Als Leihgeber sind der Rüstringer Heimatbund in Nordenham, das Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg sowie das Stadtmuseum Nordenham zu nennen. Private Leihgeber sind die Familie Kohlmann aus Popkenhöge, Reiner Tiesler aus Elsfleth und Ruth Timme aus Colmar. Die Ausstellung in der Hengsthalle wurde vom Museumsdorf Cloppenburg als Wanderausstellung konzipiert und in Zusammenarbeit mit dem Landkreis Wesermarsch erstellt.

 

Zwölf Gästeführer wurden gezielt für die Ausstellung von der LEB Niedersachsen geschult, um fachkundige Führungen für Gruppen und Einzelpersonen halten zu können. Führungen können bei Frank Klimmeck unter 04732/183930 gebucht werden.

 

Ein Beitrag von Beatrix Schulte.

Bei der Vernissage in der St.-Matthäus-Kirche sprachen (von li. nach re.): Moderator Frank Klimmeck, der Generalsekretär der Stiftung Niedersachsen, Joachim Werren, die Projektleiterin Professorin Dr. Christine Aka, Stadlands Bürgermeister Boris Schierhold, der Präsident der Oldenburgischen Landschaft, Thomas Kossendey, der leitende Direktor des Museumsdorfes Cloppenburg, Prof. Dr. Uwe Meiners, und der Landrat der Wesermarsch, Michael Höbrink. Sie stehen vor einem von Bauern gestifteten Epitaph aus dem 17. Jahrhundert. Fotos: ELKiO/Beatrix Schulte
Eine gestiftete Steintafel an der Westseite der St.-Matthäus-Kirche aus dem Jahr 1574 zählt zu den ersten Ausstattungen wohlhabender Bauern.
Kreispfarrer Jens Möllmann hielt bei der Vernissage eine Andacht und deutet auf die Stiftermarken der Bauern, die die Kanzel in der St.-Matthäus-Kirche in Auftrag gaben.
Besucherinnen und Besucher der Ausstellung