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Die Kritik von Betroffenen am Umgang der hannoverschen Landeskirche mit der Aufarbeitung von Missbrauch reißt nicht ab. Jetzt hat die Kirche ihre Zahlen zum Missbrauch geändert. Betroffene forderten erneut einen Rücktritt von Bischof Meister.
   
Hannover (epd). Auf Druck von Betroffenen hin hat die hannoversche Landeskirche ihre Zahlen zu sexualisierter Gewalt in ihren Gemeinden und Einrichtungen nach oben korrigiert. Nach der Veröffentlichung der bundesweiten ForuM-Studie zum Missbrauch in der evangelischen Kirche hätten Missbrauchsbetroffene kritisiert, dass die dort für die Landeskirche genannte Zahl zu niedrig sei, teilte die Landeskirche am Montag in Hannover mit. Bisher hatte Deutschlands größte Landeskirche von mindestens 140 betroffenen Personen seit 1946 gesprochen. Jetzt nennt sie mindestens 190 Betroffene, «die im kirchlichen Kontext sexualisierte Gewalt erlitten haben».
   
Jakob Feisthauer gehört zu den Betroffenen, die Einwände gegen die Zahlen erhoben hatten. Er hatte den Angaben zufolge 2002 als damals 15-Jähriger Anzeige gegen einen Diakon erstattet, durch den er und 44 weitere Betroffene sexualisierte Gewalt erlitten hatten. Die Taten geschahen in den Kirchengemeinden Großburgwedel bei Hannover und Nordholz bei Cuxhaven. Der Diakon wurde damals wegen sexuellen Missbrauchs und der Verbreitung pornografischen Materials vom Landgericht Hannover zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und elf Monaten verurteilt (AZ: 34a40/02).
   
Feisthauer sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd), in der ForuM-Studie seien nur vier der Betroffenen genannt. «41 haben gefehlt.» Er kritisierte: «Seit 2002 habe ich oft erfolglos die Landeskirche auf kritische Punkte hingewiesen. Dass nun diese Anregung von mir und anderen betroffenen Personen aufgenommen wurde, ist für mich noch kein Beleg für ein Umdenken in der Landeskirche.» Feisthauer ist der Betroffeneninitiative «Meisterliche Vertuschung beenden!» beigetreten, die am Montag erneut den Rücktritt von Bischof Ralf Meister forderte.
   
Kirchensprecher Benjamin Simon-Hinkelmann sagte: «Jetzt sind auch Betroffene aufgenommen, von denen wir keine Detailinformationen vorliegen haben, von denen wir aber wussten, dass es sie gibt.» In die Gesamtzahl der betroffenen Personen, die die Landeskirche zuvor öffentlich genannt habe, seien nur die Personen aufgenommen worden, für die ein Fragebogen ausgefüllt werden konnte. Gleichwohl seien an anderer Stelle alle Zahlen an die Autoren der ForuM-Studie gemeldet worden.
   
Die Landeskirche nehme die Kritik zum Anlass zu überprüfen, welche Zahlen in Zukunft noch in die Gesamtzahl der betroffenen Personen einfließen sollten, erläuterte der Kirchensprecher. «Dabei wird auch weiterhin gelten, dass es sich nicht um eine exakte Gesamtzahl handelt, sondern dass es wesentlich mehr betroffene Personen gibt als diejenigen, die der Landeskirche direkt, durch Dritte oder aus anderen Quellen bekannt sind.»
   
Die Betroffeneninitiative sieht auch in anderen Tatkomplexen Abweichungen zu den von der zuständigen Fachstelle der Landeskirche angegebenen Zahlen und listet einige auf. Demnach müssten es schon mindestens 195 Betroffene sein, betonte die Initiative am Montag: «140 oder 195 - das ist ein Unterschied von 33 Prozent!» Zwar würden für wissenschaftliche Studien wie ForuM besonders strikte Kriterien gelten. Wer Verantwortung zeigen wolle, müsse jedoch transparent machen, nach welchen Kriterien Menschen als «Betroffene gezählt werden.
   
»Das Versagen der Landeskirche und der Fachstelle sexualisierte Gewalt liegt nicht in der Vergangenheit, sondern setzt sich bis heute fort!«, schreiben die acht Betroffenen. »Wir brauchen endlich eine von der Kirche unabhängige, nach klaren Transparenzkriterien arbeitende Ansprechstelle, damit die Vertuschung in der Landeskirche Hannovers aufhört."
   
Ein unabhängiges Forscherteam hatte Ende Januar die ForuM-Studie zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie vorgestellt. Die Forscher sprechen darin von mindestens 2.225 Betroffenen und 1.259 mutmaßlichen Tätern, gehen aber von einer deutlich höheren Dunkelziffer unter anderem wegen einer eingeschränkten Datenlage aus. Die Forscher hatten die evangelischen Landeskirchen kritisiert, die statt der ursprünglich vertraglich vereinbarten stichprobenartigen Durchsicht von Personalakten letztlich bis auf eine nur Daten aus Disziplinarakten und zu bereits bekannten Fällen bereitgestellt hatten.