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Das neue Jahr 2021 ist erst wenige Tage alt. Ich persönlich empfinde stark die Zäsur eines Jahresanfangs, und ich schätze sie. Für mich ist es nicht einfach ein Freitag, der auf einen gewöhnlichen Donnerstag folgt. Für mich geht etwas zu Ende und etwas Neues kann beginnen. Neues Spiel – neues Glück!
   
Ungefüllte 365 Tage liegen vor mir. Alles ist möglich: Stringenz oder Wandel. Natürlich gilt das an jedem anderen Tag eines Jahres ganz genauso. Aber an jedem anderen Tag habe ich unzählige Gründe, Ausreden, nicht innezuhalten, nicht zurück und nach vorne zu blicken, nicht wirklich jede meiner Entscheidungen zu reflektieren. Im Alltag fließt alles vorwärts und ich schwimme häufig nur mit, ohne mich einmal ans Ufer zu setzen und von dort den Fluss zu betrachten, ein paar Stöckchen oder Steine im Flussbett aufzutürmen, um zu sehen, wie das Wasser mit diesem Hindernis umgeht. Staudämme, Flussbegradigungen, Seitenarme: All das wäre ja denkbar. Aber eben nicht im fließenden Alltag in der Mitte des Stroms.
   
Als Schulpfarrerin habe ich zum Thema Buddhismus erfahren, dass Siddhartha Gautama, der als Buddha den Dharma, die Regeln und Grundlagen des späteren Buddhismus, lehrte eben beim Betrachten eines Flusses die Kernerkenntnis seines Lebens hatte: Alles ist im Fluss. Sehe die Dinge kommen, nehme sie wahr und lass sie vorüberziehen. Nimm jede Erfahrung an als das, was sie ist. Nichts begehren, nichts verachten. Der mittlere Weg der Achtsamkeit ohne Askese oder Luxus, die Mitte des Flusses. Großartig. Wirklich! Aber irgendwie nicht so ganz meins. Ich glaube an die stetige Möglichkeit der Veränderung von außen, durch mich selbst, durch Gott.
   
Alles ist im Fluss, schrieb der griechische Philosoph Heraklit im fünften Jahrhundert vor Christus. Alles unterliegt dem Wandel. Das ist kaum auszuhalten, wenn es um Einflüsse auf mein Leben von außen geht, um weltumspannende Einbrüche wie eine Pandemie, um private Veränderungen durch menschliche Entscheidungen in meinem direkten Umfeld, die ich selbst nicht beeinflussen kann. Ich habe gern Bedingungen, die feststehen, die Gültigkeit haben, die ich greifen und benennen kann. Aber ich erlebe, dass das nur scheinbare Fixpunkte in meinem Leben sind.
   
Und weil alles im Fluss ist, das Leben, mein Leben, einem stetigen Wandel unterliegt, habe ich den Wunsch, diesen Wandel immer wieder selbst zu beeinflussen. Deshalb schätze ich das bewusste Innehalten zu Jahresbeginn. Ich reflektiere das, was im vergangenen Jahr war, Gelungenes und Misslungenes. Und ich stelle bewusst Weichen neu, mal sehr kleine, mal große. Damit wird nicht alles besser, aber anders. Und dieses Andere gibt meinem Leben einen neuen Anstoß, eine etwas andere oder gänzlich andere Richtung.
   
Wenn das Leben in stetigem Fluss, im Wandel ist, dann möchte ich diesen Wandel nicht nur wahr- und annehmen. Dann möchte ich ihn zumindest für meine überschaubare Welt auch selbst gestalten, möchte Neues ausprobieren und Altes ablegen. Diesen Mut und auch diese Freiheit habe ich aus meinem Glauben heraus, dem Glauben an Gott, der letztlich die Welt und mich in seinen Händen hält: Weil Gott mein Leben gestaltet, kann ich gestalten. Weil er mich hält, kann ich halten. Weil er mich liebt, kann ich lieben. Das ist meins! Deshalb bin ich
Christin und nicht Buddhistin.
   
Andere Menschen sind, fühlen und denken da anders. Für sie mag die Jahreslosung aus dem Lukasevangelium unerheblich sein. Für mich ist sie meine Lebensbotschaft: „Jesus Christus spricht: Seid barmherzig wie auch euer Vater barmherzig ist!“
   
Die bildende Künstlerin Andrea Sautter beschreibt ihre Gedanken zur Jahreslosung:
   
Von Gottes Händen gehalten
getragen getröstet beschützt
Du beschenkst uns großzügig, überfließend mit
Gnade und Barmherzigkeit die jede Schranke
alle Begrenzungen dieser Welt und die meines Herzens
mit Liebe durchbricht
Du
gebrauchst uns
Deine Barmherzigkeit in die Welt
zu tragen
Deine Liebe und Erbarmen weiterzugeben
Deine Barmherzigkeit zu leben
hier
heute jetzt

   
Und ich ergänze: Besonders zu Beginn dieses neuen Jahres. Amen
   
Pfarrerin Kerstin Hochartz

Alles fließt. Foto: pixabay
Alles fließt. Foto: pixabay