Bremervörde (epd). In der Frühstücksrunde schwingt das Gespräch hin und her. Mal geht es um Kreuzfahrten und Seekrankheit, mal um den Besuch beim Zahnarzt, mal ums Obstmosten und die teuren Eintrittspreise im Freizeitpark. «Wer möchte noch einen Kaffee?», fragt zwischendurch Volker Meinel. Es sind Themen, die bei jedem Frühstück angesprochen werden könnten. Nur die Gäste, die hier am Tisch zusammensitzen und zu denen auch der 63-jährige Meinel gehört, sind besondere.
Alle, die an diesem Morgen in das kirchliche Tageshospiz Bremervörde in der Mitte zwischen Cuxhaven, Bremen und Hamburg gekommen sind, leiden an einer unheilbaren und fortschreitenden Krankheit, können und möchten aber noch zu Hause leben. Meinel beispielsweise hatte im Frühjahr vergangenen Jahres plötzlich Schmerzen. Der Check beim Arzt ergab die Diagnose Krebs in Leber und Darm. Meinel baute rapide ab: «Zuletzt wog ich noch 47 Kilo, früher waren es 80.»
Auch die anderen Gäste am Tisch haben eine Krebsdiagnose. Mal haben sie über ihre Arztpraxis, mal über Mund-zu-Mund-Propaganda, mal über einen ambulanten Palliativdienst von dem Tageshospiz gehört, das sie jetzt an ein oder mehreren Tagen in der Woche besuchen. Los geht es dann immer mit einem gemeinsamen Frühstück, am Nachmittag fahren alle wieder nach Hause.
Zwischendurch ergänzt das Tageshospiz die häusliche Pflege mit Blick auf eine palliative Versorgung. Pflegekräfte, Therapeuten und medizinisches Personal sind speziell geschult und können auch im Notfall sofort eingreifen, Ehrenamtliche unterstützen zusätzlich. «Wenn du hier einen Platz bekommst - etwas Besseres kann dir gar nicht passieren», ist Volker Meinel überzeugt.
Dabei geht es für ihn und die anderen Gäste nicht nur um die pflegerisch-medizinische Seite. Denn am Tisch wird nicht nur gefrühstückt und geredet, oft spielen die Gäste miteinander, kochen zusammen, backen Brot, mosten Obst. Spaziergänge sind möglich, auch der Rückzug in ein eigenes Zimmer, je nach Lust und Kraft.
«Das kann ganz unterschiedlich sein», beschreibt es Volker Meinel. «Morgens fühlst du dich noch gut, mittags richtig schlecht. Aber hier weiß jeder vom anderen, was er hat und wie es ihm geht - und kann entsprechend reagieren. Da wachsen dir Antennen. Und außerdem: Schwer krank zu sein heißt ja nicht, dass es mir jeden Tag schlecht geht.»
Auch und vor allem geht es darum, Leben zu gestalten, Leben bis zuletzt. Denn neben einer guten Versorgung brauchen Menschen in einer palliativen Situation nach den Erfahrungen von Experten vor allem Zuwendung und Zeit, eine Oase in der Wüste der Angst. Auch Renate Rosek betont in dieser Lage die Kraft der Gemeinschaft. «Das ist wie eine Selbsthilfegruppe, wie eine Familie.»
Die 74-Jährige ist verwitwet und zu Hause allein. Ihr Körper war durch den Krebs «runtergewirtschaftet», wie sie sagt. «Zuerst habe ich mir gedacht, du kannst doch nicht täglich mit todkranken Menschen zusammen sein. Aber dann habe ich es einfach probiert, erstmal zwei Tage.» Jetzt kommt sie montags bis freitags und sagt: «Ich bin hier richtig aufgepäppelt worden, hier werde ich aufgefangen. Und wir lachen auch viel.»
In Großbritannien, Irland und den USA bilden Tageshospize nach einer Studie der Medizinischen Hochschule Hannover neben vollstationären und ambulanten Angeboten seit vielen Jahrzehnten einen wichtigen Versorgungspfeiler für Menschen mit einer unheilbaren Erkrankung. So nahm bereits 1975 im britischen Sheffield das erste Hospiz die Tagesversorgung auf. Mitte der 1990er Jahre verzeichnete Großbritannien mehr als 200 teilstationäre, hospizlich-palliative Angebote.
Das erste deutsche Tageshospiz wurde 1993 in Halle (Saale) eröffnet. Und noch immer gehört Bremervörde, 2021 eingeweiht, zu den wenigen Einrichtungen dieser Art, die der Deutsche Palliativ- und Hospizverband auf seiner Website listet: Bundesweit sind es 15, weitere sechs sind im Bau oder geplant.
«Der Bedarf ist groß, wir brauchen mehr», meint Benno Bolze, Geschäftsführer des Verbandes mit Sitz in Berlin. «Auch, weil ein Tageshospiz die häusliche Versorgung stabilisiert und pflegende Angehörige entlastet.» Damit es mehr Einrichtungen werden, müsse die Finanzierung auf eine verlässliche Grundlage gestellt werden.
Die entlastende Funktion erfährt die Ehefrau von Volker Meinel am eigenen Leib. Als es ihrem Mann so schlecht gegangen sei, habe er kaum etwas essen können. Er habe es keine 20 Schritte zur Toilette geschafft. «Ich hatte Angst, dass er verhungert», blickt Renate Meinel zurück. Die Last der Verantwortung hat die Frau, die selbst ganztags berufstätig ist, «fast erdrückt». Der Platz im Hospiz sei da «wie ein Sechser im Lotto gewesen». Der Austausch mit anderen Gästen habe ihrem Mann gutgetan. «Davon profitieren wir auch als Paar.»
Mittlerweile hat Volker Meinel wieder zugelegt, durch hochkalorische Ernährung, die richtige Medikation und nicht zuletzt die Frühstücks- und Mittagsrunden. Renate Rosek geht es genauso: «In der Gemeinschaft zu essen, das ist doch was ganz anderes.»
Dazu kommt die Atmosphäre im Haus. «Ich komme jedes Mal mit einem guten Gefühl her und geh am Nachmittag mit einem guten Gefühl nach Hause», sagt Ida Martens, mit 91 Jahren die Älteste in der Runde. «Die ganze Liebe, die die Betreuung hier ausstrahlt», betont sie und ergänzt: «Das hier ist mein Zuhause.»