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Bergen-Belsen/Kr. Celle (epd). Michael Gelber war neun, als er das Grauen mit anschauen musste. Tote menschliche Körper, aufgeschichtet zu Leichenbergen. Und Lager-Bedienstete, die mit einem Federwagen kamen und die Toten abzutransportieren. «Ich erinnere mich noch sehr gut daran, ich habe alles gesehen», sagt Gelber, heute 86 Jahre alt. Mit rund 60 weiteren Überlebenden aus 13 Ländern und ihren mehr als hundert Angehörigen ist er an diesem Sonntag aus den Niederlanden in die Gedenkstätte für das frühere Konzentrationslager Bergen-Belsen bei Celle gekommen, um an die Befreiung des Lagers durch britische Truppen am 15. April 1945 zu erinnern.

 

 

 

Eigentlich solle die Gedenkzeremonie schon vor zweieinhalb Jahren stattfinden - doch Corona machte alle Planungen zunichte. Nun wollte die Gedenkstätte nicht länger warten und verlegte die Zeremonie kurzerhand in den September. Denn viele der Überlebenden sind bereits hochbetagt und zum großen Teil über 80 Jahre alt. Sie alle waren als Kinder in Bergen-Belsen inhaftiert. So wurde am Sonntag statt des 75. Jahrestages der Befreiung eben der 77. Jahrestag begangen.

 

 

 

Michael Gelber war acht, als er im Januar 1944 nach Bergen-Belsen gebracht wurde, wo insgesamt 52.000 KZ-Häftlinge ums Leben kamen. Der Junge hatte Glück im Unglück: Seine aus den Niederlanden stammende jüdische Familie hatte von den Briten über das Rote Kreuz ein sogenanntes «Palästina-Zertifikat» bekommen. Als überzeugte Zionisten hatten sie damit die Berechtigung, ins heutige Israel einzureisen. Die deutschen Besatzer wollten sie nun gegen internierte Deutsche austauschen - für solche Juden war das KZ Bergen-Belsen ursprünglich vorgesehen. «Das war ganz klarer Menschenhandel», sagt Gelber heute.

 

 

 

Im Lager blieben diese Häftlinge vor den härtesten Schikanen verschont. Sie lebten in einem eigenen Trakt, abgetrennt durch Stacheldraht. Und die Familien konnten zusammenbleiben - auch wenn die Väter abends um acht Uhr in eine eigene Männerbaracke abkommandiert wurden. «Wir durften unsere Bekleidung behalten, und wir wurden nicht kahlgeschoren», erzählt Gelber. Dann deutet er auf seinen rechten Arm: «Und ich trage keine Nummer.» Denn eine eintätowierte KZ-Nummer auf dem Arm hätte nach dem Austausch im Ausland die nationalsozialistischen Verbrechen verraten.

 

 

 

Im April 1945 geht dann plötzlich alles ganz schnell. Aus dem Osten strömen, getrieben von der SS, viele neue KZ-Häftlinge nach Bergen-Belsen, die aus anderen, bereits aufgegebenen Lagern evakuiert worden sind. Bergen-Belsen quillt über, zeitweise sind hier 60.000 bis 70.000 Insassen zusammengepfercht. Um Platz zu schaffen, entscheidet der Lagerkommandant, die für den Austausch vorgesehenen Gefangenen von der SS mit Zügen an einen anderen Ort bringen zu lassen. So gelangt Michael Gelber in diesen Tagen ins Dörfchen Tröbitz zwischen Leipzig und Berlin und wird dort von russischen Truppen befreit.

 

 

 

Später geht er mit seiner Familie tatsächlich nach Israel, siedelt dann aber aus beruflichen Gründen wieder zurück in die Niederlande. Heute lebt er in Rotterdam. Doch seit 50 Jahren kommt er regelmäßig zurück nach Bergen-Belsen, um an den Treffen der Überlebenden teilzunehmen. Das Gespräch mit ihnen ist ihm wichtig, die Erinnerung lässt ihn nicht los - auch wenn von den Baracken von damals heute nichts mehr zu sehen ist. Gemeinsam mit vielen anderen legt er an diesem Sonntag Blumen an der Gedenkstätte nieder. Und er lauscht dem eindringlichen Appell von Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne).

 

 

 

Roth fordert die Deutschen auf, sich der schmerzvollen historischen Wahrheit über die NS-Verbrechen in den Konzentrationslagern zu stellen. Wer diese Wahrheit nicht sehen wolle oder gar leugne, handele nicht nur verantwortungslos, sondern stelle sich im Nachhinein auf die Seite der Täter, sagt sie bei der Zeremonie unter freiem Himmel: «Bergen-Belsen war eine Folterstätte, eine Hölle eingerichtet von Menschen.»

 

 

 

Wer diese Verbrechen vergessen wolle, bleibe der Vergangenheit ausgeliefert, sagt Roth: «Wir blieben ahnungslos und wären verdammt zu wiederholen, wovor wir uns doch fürchten.» Michael Gelber kann das nur unterstreichen.