Fundamente
 

Newsletter der Gemeindeberatung der Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg
Nr. 3.14
November 2023

 
 
Inhalt
 
 
 
Abschied von Birgit Jürgens
 

Liebe Leserin, lieber Leser,
diese Ausgabe hat nur ein Thema: den Abschied von Birgit Jürgens. 25 Jahre war sie Gemeindeberaterin. War für viele das Gesicht der Gemeindeberatung. Birgit Jürgens beschreibt ihren Abschied von der Arbeit und ihre Rolle als Gemeindeberaterin. Andreas Zuch blickt auf die Zeit von Birgit Jürgens als Gemeindeberaterin zurück. Einen ganz anderen Blick auf das Abschiednehmen und loslassen wirft Ingrid Grossmann. Die Andacht schlägt einen Bogen von der Jahreslosung zur Haltung, die Birgit Jürgens in ihrer Arbeit gezeigt hat.
 

 
 
Du bist ein Gott, der mich sieht. (1. Mose16,13) oder wie die Rolle als Gemeindeberaterin ausgefüllt werden kann
 

Sie hatte eingewilligt. Was war ihr auch anderes übriggeblieben? Sie war ja nur eine Magd, eine Angestellte, Dienerin. So wurde sie von den anderen wahrgenommen.
Sie duckt sich nicht weg. Viele Aufgaben hat sie übernommen. Viele Rollen wahrgenommen. Sie war und ist sichtbar. Das zeichnet sie aus.
Angeschaut werden. Was wird gesehen? Was wird geschätzt? Von wem?
Dann bestimmte ihre Herrin für sie eine neue Rolle. Mutter sollte sie werden. Ein Kind gebären an ihrer statt. Dabei am besten unsichtbar bleiben. Ihren Platz nicht vergessen.
Sie veränderte sich. Zunächst nur körperlich sichtbar. Dann auch innerlich. Sie wurde selbstbewusster. An ihr hing der Fortbestand der Sippe. Der Blick der anderen auf sich veränderte sich. 
Plötzlich sank ihr Ansehen. Unmerklich zunächst. Die Herrin selbst war schwanger geworden. Damit war sie als Kindsmutter überflüssig geworden. Jetzt übersahen sie sie. Nahmen sie gar nicht mehr wahr. Und wenn doch, dann eher widerwillig. Sie war im Weg. Ebenso ihr ungeborenes Kind. Schutzlos.
Sie lief fort. In den sicheren Tod. Niemanden würde es kümmern, wenn er eintrat. Gesichtslos. Wertlos. Wie damit weiterleben? Sie hatte keinen Platz mehr.
Resigniert. Am Boden. Auf einen raschen Tod für sich und das Ungeborene hoffend. Ohne Aussicht auf Zukunft.
Da blickte einer sie an. Rettete damit ihr Leben. Gab ihr Hoffnung und Würde. Weil er sie sah. Nicht die Rolle oder die Funktion, die sie innehatte. Sie, die Frau, die werdende Mutter, die am Ende war. Die Hilfe brauchte. 
So konnte sie zurückgehen zu der Herrin. Konnte dort ihren Sohn zur Welt bringen. Wurde dann doch weggejagt. Sah dem Tod ins Auge. Erfuhr wiederum, dass Gott sie sah. Rettete. Es änderte ihr Leben.
„Du bist ein Gott, der mich anschaut. Du bist die Liebe, die Würde gibt. Du bist ein Gott, der mich achtet.“ Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass das die ersten Textzeilen in den freitönen sind. Von Gott angesehen werden. Liebe spüren. Würde verliehen bekommen. Geachtet werden.
Mir gibt dieses Wissen mehr als ein warmes Gefühl im Bauch. Es nährt mich. Macht mich groß. Gibt mir die Möglichkeit auf andere zu zugehen. Ermöglicht mir, genau das auch in meinem Gegenüber zu sehen: Gottes Ebenbild.
„Du siehst mich…“ So die Aufgabe als Gemeindeberaterin wahrgenommen: ein liebevoller Blick auf die Menschen. (Und auf die Systeme) Bereit, einen zweiten, einen dritten Blick zu tun. Überlegen, was unterstützen kann. Angebote unterbreiten. Stark machen. Befähigen. Dabei sich selbst riskieren, indem sie sich aussetzt – den Blicken, den Worten anderer. 
Wissend, glaubend, getragen von der Gewissheit: Du bist ein Gott, der mich anschaut. Und damit andere sehen. 
So selbst wahrgenommen, und das, was ihr noch an Rollen zugeschrieben wurde und wird. Du bist ein Gott, der mich anschaut. Das bleibt.
© Barbara Bockentin

 
 
Ritschies Reste ... Gedanken aus dem Off
 
 
 
Liebe Lesende,
 

in der Zwischenzeit mag es sich herumgesprochen haben: Nach vielen Jahren ihrer engagierten Arbeit wird Birgit Jürgens am 17. November in den Ruhestand verabschiedet. 
Als Referentin der Gemeindeberatung bleibt sie zahlreichen Menschen in unserer Kirche und darüber hinaus in Erinnerung. Sie hat einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung vieler Gemeinden und anderen Organisationen unserer Kirche geleistet und zahlreiche Menschen auch einzeln begleitet. 
Birgit Jürgens war nicht nur eine kompetente Ansprechpartnerin für unser Team in der Arbeitsstelle und in der Arbeitsgemeinschaft der Beratenden, sondern auch eine herzliche Begleiterin, erfahrene Mentorin und kreative Beraterin in schwierigen Situationen. 
Mit ihrer humorvollen und direkten Art hat sie Menschen Mut gemacht, neue Wege zu gehen. Ihre Ideen und ihr Einsatz, die Vielfalt der Methoden, die sie parat hat, waren bereichernd und vitalisierend für zahlreiche Begegnungen.
In der Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg hat Birgit Jürgens ihre Spuren hinterlassen. Darüber hinaus war sie auch in der Ev.-ref. Kirche und den Nachbarkirchen Bremen und Hannover mit viel Engagement beratend tätig und gilt auch dort als eine geschätzte Kollegin. 
Wir möchten uns herzlich bei Birgit bedanken. Ihr Wirken hat uns vielfältig geprägt. Ihre Offenheit, ihr Verständnis, ihre Expertise und ihre Hilfsbereitschaft werden uns fehlen. 
Liebe Birgit, wir sind dankbar für die Zeit, die wir mit Dir verbringen durften. Du hast uns gezeigt, was es bedeutet, mit Herzblut diese wichtige Arbeit zu tun und für andere da zu sein. 
Wir verabschieden wir uns von Dir mit allen guten Wünsche für die kommenden Jahre; die mögen für Dich unter dem Schirm und Schutz Gottes stehen. 
Im Namen der AG Gemeindeberatung und des Teams in der Arbeitsstelle,
Andreas Zuch, Leiter der Arbeitsstelle 

 
 
Erwischt! Abschied von Beruflichkeit
 

so geht es in diesen Jahren ja sehr vielen … den Babyboomern ganz besonders. Und zu denen zähle ich. Wir sind immer viele und dann Alleinstellungsmerkmale zu finden, setzt manchen von uns auch unter Druck.
Das ist gewiss, dass nichts so bleiben wird, wie es war. Meine berufliche Funktion und Identität wird es so zukünftig nicht mehr geben. Mit dem Verlust der beruflichen Funktion, entschwinden auch meine beruflichen Aufgaben, die berufliche Eingebundenheit. Damit verbunden auch Anerkennung von Leistung, persönlicher Erfolg und Wertschätzung. Kontakte werden zurückgehen, manche werden sich verändern. Die Organisation Kirche, mein Rahmen, wird bleiben, in welcher Form auch immer. Ich werde weniger in kirchlichen Gruppen arbeiten und sein. 
Meine Beruflichkeit war stark verknüpft mit meinen Ressourcen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, meiner Bereitschaft Leistung zu erbringen, möglichst viel zu ermöglichen, zugetraute Aufgaben anzunehmen und in der Gemeindeberatung besonders dem Privileg Menschen, begleiten zu dürfen, passende Wege zu finden für die unterschiedlichen Themen, Aufgaben und Gruppen meinem Wunsch nach Selbstverwirklichung, meiner Zuversicht und meinem Humor, meiner Art, Verschiedenes miteinander zu verknüpfen, Respekt und Wertschätzung für die Menschen, denen ich begegnen durfte. 
Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, …. 
Ich habe gern bewußt in den Kleiderschrank gegriffen und geschaut, was passt für mich und meine Rolle in dieser Beratung, was in der Sitzung, mit wem werde ich es zu tun haben, was möchte ich ausstrahlen? Das hat mir Sicherheit gegeben, meine Haltung „entäußert“. Und Lampenfieber hat es wieder und wieder gegeben. Ich bin nicht zurückgeschreckt vor großen beruflichen und beraterischen Herausforderungen. „Sie waren mir in die Hände und vor die Füße gelegt“ und es fiel und fällt mir durchaus schwer, abzusagen, nicht anzunehmen - entgegen jeder Unsicherheit und jedem Fluchtgedanken, obwohl nicht alles bei mir Freudensprünge ausgelöst hat. 
… sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit
An Kraft hat es selten gemangelt, obwohl ich Zeiten kennenlernen musste, in denen ich dachte: jetzt geht nichts mehr. An Liebe zu den Menschen und den Aufgaben und dem Auftrag (im christlichen und konkreten Sinne) auch nicht. Besonnenheit? Nun, da habe ich weiter die Möglichkeit, sie zu üben. 
Und nun? – „Bleibt alles anders“
Dankbarkeit trifft es wohl am Ehesten. Ich bin so dankbar für die reichen Begegnungen, viele gelungene Beratungen, für das Wissen, dass dem Unverfügbaren Raum gegeben werden kann, für das grandiose Scheitern, weil ich daraus lernen konnte für die Praxis egal in welchem Feld, für die Weiterentwicklung der jeweiligen Rolle und mich ganz persönlich
Es bleiben auch Fähigkeiten und Fertigkeiten und Kompetenzen. Sie waren und werden in meiner Freiberuflichkeit weiter wirksam sein können, wenn Menschen mir ihr Vertrauen schenken wollen. Weniger in Gruppen noch mehr mit Einzelpersonen.
Da sind ja noch reichlich Ideen, womit ich Geist und Zeit füllen kann: Nach wie vor, bleibe ich in Berührung mit Kirche. Ich werde nach wie vor viel Lesen und Hören allein und mit anderen und mich vielleicht zu unterschiedlichen Themen einmischen; und dann sind da auch meine Rollen Mutter, Omi, Tochter, Schwester, Tantchen,  Freundin, Wegbegleiterin, freiberufliche Coach, demnächst auch Hobby-Käserin, Urlauberin, Spaziergängerin mit Hund.
Ihre Birgit Jürgens

 
 
"Loslassen"?
 

Der Psychotherapeut und Theologe Roland Kachler hat es seinen Klienten und Klientinnen in der Trauer immer wieder empfohlen, bis er selbst betroffen war vom plötzlichen Tod seines 16-jährigen Sohnes. Seitdem hat er es nicht mehr geraten, grausam kam ihm jetzt die Aufforderung vor, den geliebten verstorbenen Menschen „loszulassen“. Es erschien dem verwaisten Vater so, als verlöre er seinen Sohn ein zweites Mal: das erste Mal durch dessen faktischen Tod, ein zweites Mal durch ein auferlegtes Loslassen.
Das amerikanische Konzept des „new understanding of grieve“ übertrug Kachler ins Deutsche und entwickelte sein „zweispuriges“ Trauerverständnis. 
Erste Spur: Akzeptieren dessen, was ist und zweite Spur: – genauso wichtig – eine neue Beziehung aufbauen zum Verstorbenen. Heute schlägt Kachler trauernden Menschen z.B. vor, Fotos der geliebten Person aufzustellen und zu betrachten; sich in stillen Gesprächen mit dem Verstorbenen, verabredet oder spontan, auszutauschen; Orte aufzusuchen, die zu Lebzeiten eine Bedeutung für die verstorbene Person hatten: eine Bank, einen Spazierweg, einen Platz im Haus oder im Garten.
Kinder, die intuitiver, weniger „verkopft“ trauern, zeigen auf ihre Weise, wie das noch gehen kann. Das T-Shirt des Vaters, das Kleid der Mutter übergezogen, sind sie in diesen Momenten der geliebten toten Person nahe, fühlen sie sich auf neue Weise verbunden. ---
Seitdem ich Roland Kachler und seinen Trauer-Ansatz kennengelernt habe, arbeite ich in der Trauerbegleitung gern mit der Metapher des Kletterns mit Absicherung. Auch für die verschiedensten, krisenhaften bis alltäglichen Prozesse des Abschied-Nehmens hat mir diese Metapher schon oft geholfen und eine neue Perspektive eröffnet. 
Eine Person sichert unten an der Wand, bzw. am Berg mit einem Sicherungsseil, während die andere Person klettert. Loslassen beim Klettern wäre gefährlich. 
Während ich klettere in meinem Abschied-Nehmen, bin ich erleichtert über eine Begleitperson, die mich absichert, die mir beisteht und dableibt. 
Oder anders herum, während eine andere Person sich verabschiedet, nehme ich die damit verbundene Traurigkeit, den Schmerz an und bleibe im Kontakt mit der Person. 
Im übertragenen Sinn hilft mir das Gebet und mein Glaube beim Absichern. Ingrid Großmann
Quelle: Roland Kachler, Meine Trauer wird dich finden, Kreuz-Verlag